Notfallseelsorger in Betonburgen

Hackenbroichs andere Seite – in Dormagens Satellitenstadt kümmert sich Pfarrer Ingolf Schiefelbein seit elf Jahren um seine religiöse Minderheit

„Eine Gemeinde kann man sich nicht zusammenpredigen – aber zusammenlieben.“Bei Unfällen oder Verbrechen kümmert er sich um die psychische Erstversorgung

AUS DORMAGEN LUTZ DEBUS

Am wichtigsten ist es, hier zu überleben. Das dachte Pfarrer Ingolf Schiefelbein, als er das erste Mal durch den Stadtteil ging. Sein zweiter Gedanke: Wie soll das gehen? Und der dritte: Werde ich hier gebraucht? Die flacheren Häuser nahe seiner Kirche haben sechs Stockwerke, die höheren türmen sich auf bis zum 13. Anfang der Siebziger Jahre wurde die Hochhaussiedlung im Norden von Köln aus dem Boden gestampft. Das große Chemiewerk von Dormagen lockte Arbeiter aus ganz Europa. Und die brauchten ganz schnell billigen Wohnraum.

Seither verdecken grüne und braune Plastikplatten die Betonwände der Wohnsilos. Auf den matschigen Freiflächen zwischen den Häusern spielen Kinder. Der Stadtteil Hackenbroich-Süd in Dormagen hat keinen guten Ruf: Drogenhandel, Prostitution und Gewalt sind Schlagworte, die mit Hackenbroich verbunden werden. Dabei ist die Trabantenstadt nur ein Teil von „Hackes“, wie der Ort im Volksmund genannt wird.

Nördlich der Betontürme liegt auch ein rheinisches Dörfchen mit gleichem Namen, mit alten, gedrungenen Häusern und so manchem luxuriösen Eigenheim. Die Salm-Raiffscheid-Allee markiert die Grenze zwischen den zwei Hackenbroichs – hier die provinzielle Idylle, dort eine ethnologische Patchworkdecke: „Hier sind mehr Nationalitäten vertreten als in der UNO,“ schmunzelt Pfarrer Schiefelbein über sein Hackes.

Seit seinem Amtsantritt sind elf Jahre vergangen. Natürlich hat er überlebt. Natürlich ging es irgendwie. Natürlich wurde er gebraucht. Nicht nur an Sonntagen zu Gottesdiensten, zu Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Die ersten Jahre waren anstrengend. Und die ersten Tage. Da suchte gleich eine 20-köpfige Roma-Familie seinen Beistand. Russland-Deutsche baten ihn um Hilfe.

Statistisch gesehen sei seine evangelische Gemeinde eben eine „religiöse Minderheit“, so Schiefelbein. Im rheinischen Dorf dominiere natürlich die römisch-katholische Kirche. Und in Hackes Süden gebe es viele Muslime; Menschen aus der Türkei, aus arabischen, aus afrikanischen Ländern.

Hackenbroich-Süd ist ein sozialer Brennpunkt. Doch immerhin seien Schießereien inzwischen seltener geworden. Die letzte gab es vor einem halben Jahr. Ein Streit um Spielschulden. Vor Jahren erschoss der Direktor eines kleinen Wanderzirkusses einen jungen Mann, weil der die Raubtiere provoziert haben soll. Inzwischen hat sich die Lage entspannt. In der Kriminalitätsstatistik ist Hackenbroich von anderen Stadtteilen überholt worden. Öffentliche Projekte seien in den letzten Jahren entstanden, so fließen über das Modell „Soziale Stadt“ Bundes- und Landesmittel nach Dormagen.

Aber nicht nur die professionellen Helfer haben das Klima in Hackes verbessert. Anfangs war Schiefelbein als gebürtigem Berliner die rheinische Gemütlichkeit etwas fremd. Doch tatsächlich leisteten auch Karnevals- und Schützenvereine viel Integrationsarbeit. Anders könne er es sich nicht erklären, dass so viele verschiedene Menschen auf so engem Raum relativ friedlich zusammen leben. Mittlerweile seien die Hochburgen des närrischen Treibens in Dormagen auch aus Beton gegossen, sagt Kirchenmann Schiefelbein.

Aber nicht immer hilft ein Tschingderassapeng: Schiefelbein erinnert an einen Mann, dem zunächst die Frau und dann der Sohn gestorben sei. „Der sitzt nur noch in seiner Wohnung rum und keiner kommt an ihn ran.“ Da helfe dann kein Schützenverein. Auch anderen Tragödien hat er erlebt: Eines Tages stand auf dem höchsten Balkon eines Hochhauses eine Frau. Für die Freundin der Pfarrersfamilie war das Leben zu schwer geworden.

Eines Tages klingelte bei Ingolf Schiefelbein ein Mann in Lederjacke: Er suche dringend einen Pfarrer für einen Bikergottesdienst. Schiefelbein war begeistert. Mit 17 hätte er gern den Führerschein für Motorrad gemacht. Die Eltern redeten es ihm damals aus. Zu gefährlich. Später, als seine Freunde auf ihren Hondas davon sausten, ärgerte er sich, nicht mitfahren zu können. Und nun wollten Motorradfahrer etwas von ihm. Zum ersten Bikergottesdienst kam er dann mit dem Fahrrad. Das war für die Versammelten schon recht lustig. Trotzdem wollten sie die Veranstaltung im nächsten Jahr mit ihm wiederholen. Kurzentschlossen kaufte Schiefelbein dem Küster einen Vespa-Roller ab. Das Gelächter wurde nicht leiser, als er mit den knallrot lackierten 125 Kubikzentimetern zum Gottesdienst kam.

Schließlich machte er doch seinen Motorrad-Führerschein, kaufte sich eine alte BMW. Inzwischen ist er gern gesehen bei Touren in die Eifel oder an den Niederrhein. Egal wie religiös oder ungläubig die Motorradfahrer seien – zu Beginn der Saison wollen alle seinen Segen erhalten. Vielleicht sei es die latente Todesnähe auf zwei Rädern, die vermeintliche harte Männer für dieses Thema empfänglich mache. Viele Gespräche, die mit anderen Männern eher selten sind, könne er mit Bikern intensiv führen, sagt Schiefelbein.

Wenn er in der Gemeinde unterwegs ist, tragt Pfarrer Schiefelbein dann auch einmal schwarzes Leder. Manchmal aber auch Knallgelb. Quer über seinen Schultern steht dann in Leuchtschrift „NOTFALLSEELSORGER“. Mit anderen Geistlichen aus Dormagen bildet er diese spezielle Rufbereitschaft.

Bei Unfällen und Verbrechen kümmern sie sich um die psychische Erstversorgung der Opfer. Vor zwei Jahren hatte ein 17-jähriger im benachbarten Jüchen 13 Mitschüler als Geiseln genommen. Schiefelbein war mit vielen anderen Einsatzkräften für die Angehörigen und Schüler erster Ansprechpartner. Sein bislang größter Einsatz. Auch sonst keine leichte Aufgabe. Ein Mann fuhr sich auf einer Landstraße zu Tode, ein anderer wurde stranguliert aufgefunden, ein Suizid. Im Chemiewerk wurden zwei Mädchen von einem Bagger überrollt. In allen Fälle übernahm Ingolf Schiefelbeins die Aufgabe, den Eltern vom Tod ihrer Kinder zu berichten. Eine Mutter bekam einen nicht enden wollenden Lachkrampf. Ein Vater wollte die Polizei rufen, er glaubte, der Pfarrer mache einen bösen Scherz. Eine Mutter erstarrte. Eine ältere Frau, deren Mann an Herzversagen verstarb, klammerte sich über eine halbe Stunde an den Toten. Später, so Schiefelbein, seien die Menschen ihm dankbar, dass er in den für sie schweren Stunden bei ihnen war.

Sein Job ist ein Wechselbad der Gefühle. Manchmal könne man es nicht anders organisieren. Dann muss er direkt nach einer Beerdigung eine Hochzeit feiern oder ein Kind taufen. Zwischen zwei solchen Terminen hilft die Musik. „Tschaikowski, Richard Strauss. Wenn es ganz schlimm ist, müssen die ran.“ Manchmal spielt er auch Klavier, nach Noten, aber auch frei improvisiert. „Spielen hilft, auf dem Klavier, aber auch auf dem PC.“ Mit Computerspielen könne er seinen Kopf wieder frei machen. Und für die gute Laune habe er CD‘s von Abba und Toto im Schrank.

Sein Auftrag? Letztlich sei auch er unterwegs „im Namen des Herren“, sagt Schiefelbein und erinnert an die Parole der Blues Brothers.

Zu denen, die für Hackes Negativschlagzeilen sorgen, habe er keinen Kontakt: Schläger, Dealer und Zuhälter kommen nicht in seinen Gottesdienst. Und vielen Menschen aus den Hochhäusern fehle es an Wissen um seine Botschaft. Natürlich fragen sich alle Menschen nach dem Sinn des Lebens. Antworten liefern, so Schiefelbein, letztendlich nicht die Satellitenschüsseln an den Balkonen.

Auf dem Gemeindefest lässt sich am ehesten erahnen, dass Nächstenliebe in Hackenbroich möglich sei. Da trinkt der arbeitslose Gabelstaplerfahrer mit dem leitenden Angestellten ein Kölsch. Der Chor singt dazu Gospel und Kinder aller Nationalitäten toben gemeinsam auf der Hüpfburg.

„Eine Gemeinde kann man sich nicht zusammenpredigen, man muss sie sich zusammenlieben“, sagt Ingolf Schiefelbein, schwingt sich auf seine BMW und braust davon durch den Nieselregen.