ausgehen und rumstehen
: Neue Fülle in alten Läden: Man sollte das Haus nur noch antizyklisch verlassen

Die letzten Wochen standen noch ganz im Zeichen des Jahreswechsels. Verarbeitet werden musste die emotional anstrengende Weihnachtszeit, dann die Aufregung um Silvester und Neujahr. In den ersten Januarwochen machte sich dann eine allgemeine Grundmüdigkeit breit, bei manchen wuchs sie sich zu einem veritablen Winterschlaf aus. Statt Ausgehen wurden ältere Verhaltensweisen wie Cocooning, was längst Nesting heißt, wieder hervorgeholt.

Aber nun, wo das neue Jahr schon drei Wochen alt ist, hat man so langsam genug vom Nesting, was man auch Bedding nennen könnte, und traut sich langsam mit verschlafenen Augen wieder hinaus ins Leben. Allerdings hat es sich etwas verändert da draußen, erstaunt weicht man erst einmal vor diesem prallen Leben zurück. Nicht dass das Ausgehen jetzt amüsanter oder aufregender wäre als zuvor, es ist lediglich bewohnter.

Freitagnacht wimmelte es zum Beispiel in der Oranienstraße vor Passanten, dichte Menschentrauben hatten sich vor den Imbissen am Heinrichplatz gebildet. In Alt-Mitte platzte das gute alte Bergstübl aus allen Nähten, schon am Eingang musste man sich energisch durch gefüllte Wintermäntel drängen, kam nur mit vehementer Sturheit weiter und blieb doch minutenlang zwischen anderen Leibern stecken. Wer in der Clique unterwegs ist, wird erkennen, wie unterschiedlich Menschen in solchen Situationen reagieren. Die Sensibleren, oft sind es die Jüngeren, wollen leicht aufgeben, mutlos kehrtmachen, weil „ es keinen Sinn hat“. Als ob es mehr Sinn hätte, nach dem auch nicht einfachen Rückzug draußen im Regen zu stehen und über ein trostloses „Wohin jetzt?“ zu beratschlagen!

Dabei weiß doch jeder, der über ein wenig Lebenserfahrung verfügt, dass sich Staus auf wundersame Weise binnen Sekunden auflösen können, dass sich in jedem Laden, der vorne überfüllt aussieht, hinten noch ein kleines freies Eckchen auftun kann. Auch die Party im CCCP in der Torstraße schien zunächst wegen Überfüllung unbetretbar. Aber auch da fand sich nach beherztem Vorangehen ein kleines verstecktes Separee. Da saß man dann auf wenigen Quadratmetern auf weichen Sofas in roter, medizinisch riechender Glitterdeko, freute sich, der Enge entgangen zu sein, und blieb wie festgewachsen einige Stunden sitzen.

Jeder weitere Schritt – wie zum Beispiel Getränkeholen – musste zwar durch eine Gruppendiskussion eingeleitet und eine langwierige Expedition realisiert werden, niedere Bedürfnisse wie Wasserlassen mussten unterdrückt werden, aber mein Gott, es ist halt nicht immer leicht.

In der Rückschau auf diesen vergnüglichen Abend fragt man sich schon: Wird es jetzt immer so sein im neuen Jahr 2005, zu dessen Normalität wir gerade erst finden? Woher kommt diese neue Fülle? Lag es vielleicht an der viel besprochenen Brot-und-Butter-Messe, der Grünen Woche, oder gar am ADAC-Mitgliedertreffen?

Sogar am Sonntagnachmittag war es jedenfalls selbst in einem relativ untrendigen Bezirk schwierig, einen Platz in einem stinknormalen Szenecafé zu bekommen. Wo früher melancholische Tresenkräfte aus dem Fenster starrten, ist es heute schwarz vor Menschen, wimmelt es vor kellnerischer Betriebsamkeit.

Plötzlich erinnert man sich wieder an eine alte Ausgehregel aus der Steinzeit: antizyklisches Ausgehen. Das heißt: samstags grundsätzlich zu Hause bleiben, weil da die „ganzen Idioten“ ausgehen, sonntags nie ins Café, weil da … usw. Hat etwa Hartz IV in diesen drei Januarwochen schon ein Jobwunder vollbracht? Haben jetzt plötzlich alle Arbeit und gehen nur noch am Wochenende raus? Man weiß es nicht, man wird das Phänomen weiter beobachten müssen.

CHRISTIANE RÖSINGER