jazzkolumne
: Labelgründungen, Übernahmen: Zwei Wochen vorm Jazz-Grammy ist die Szene arg in Bewegung

Seltsame Befreiung: Machen die Veränderungen der Musikbranche künstlereigene Plattenfirmen nun endlich möglich?

Bis auf wenige Ausnahmen lesen sich die aktuellen Grammy-Nominierungen im Jazz wie ein Abgesang, nicht wie ein Aufschrei. Obwohl man in den zuständigen Gremien immer sehr auf die Unabhängigkeit von der Industrie bedacht tut, werden diesmal wieder zahlreiche Produktionen aus der alten Struktur aufgerufen. Von Verve bis Blue Note werden die aktuellen John-Scofield- und Bill-Charlap-CDs durchgewunken, allein Jan Garbarek bricht mit seinem neuen Album „In Praise of Dreams“ (ECM) als einziger Europäer den Nominierungsreigen für die Jazz-Grammys, die am 13. Februar 2005 im Stapples Center in Los Angeles verliehen werden. Bis auf „ArtistShare“, einer künstlereigenen Firma, bei der die als „Best Large Jazz Ensemble Album“ nominierte CD „Concert In The Garden“ vom Maria Schneider Orchestra erschienen ist, wird die mit der Umstrukturierung der Industrie forcierte Entstehung zahlreicher kreativer Indie-Labels noch großzügig ignoriert. Weder Ayler, Eremite, Pi Recordings noch Thirsty Ear Records finden sich unter den Auserwählten.

Dass man beim größten internationalen Meeting der Musikindustriellen den „Persönlichkeit des Jahres“-Award an den Blue-Note-Chef Bruce Lundvall vergeben hat, stimmt jedoch eher zuversichtlich. Lundvall leitet in New York die Jazz- und Klassikabteilung von EMI und repräsentiert somit eine Nische. Er zähle seit vier Jahrzehnten zu den wichtigsten Persönlichkeiten des Tonträgergeschäfts und habe bewiesen, dass man das Gespür für Musiktalente haben, sie finden und dabei ein guter Geschäftsmann sein könne, heißt es in der Begründung. Vor drei Jahren stand sein Laden kurz vor der Abwicklung, und dann akquirierte er Norah Jones, deren Verkaufserfolge es dem Label ermöglichte, Kreativkräfte wie den Pianisten Jason Moran und den Saxofonisten Greg Osby weiterhin zu veröffentlichen. Die Auszeichnung wurde Lundvall gestern auf der Midem in Cannes überreicht.

Nachdem das Jazz-Label Concord Records unlängst seinen Konkurrenten Fantasy Records für rund 90 Millionen Dollar gekauft hat – auch Sony hatte an dem Unternehmen, zu dessen Katalog Aufnahmen von Thelonious Monk, Chet Baker und Charlie Parker gehören, Interesse gezeigt – stellt sich die Frage: Wie geht es eigentlich den heutigen Jazzmusikern?

Einer der letzten lebenden Jazzkünstler, die BMG unlängst noch unter Vertrag hatte, ist der Trompeter Dave Douglas – „Strange Liberation“ hieß, fast schon symptomatisch, seine letzte CD. In New York gab er nun die Gründung des Labels Greenleaf Music bekannt, bei dem heute das neue Album der Douglas-Band Nomad „Mountain Passages“ erscheint. Für die kreative Freiheit müsse man heute sein eigenes Label gründen, sagt der Trompeter, nach 21 Platten bei unterschiedlichen Firmen wolle er mehr Eigenverantwortung für seine Aufnahmen übernehmen.

Nach Douglas kündigte kurz darauf auch der Bassist Dave Holland die Gründung eines eigenen Labels an. Als Debüt von „Dare 2 Records“ soll „Overtime“, die nächste CD seiner mit einem Grammy ausgezeichneten Big Band, im kommenden Monat veröffentlicht werden. Die Gründung von Dare 2 Records sei die Verwirklichung eines alten Traumes, sagt Holland. Er habe schon immer gern ein eigenes Indie-Label haben wollen, die Veränderungen in der Musikbranche und die zunehmende Bedeutung des Internets für den Vertrieb würden künstlereigene Plattenfirmen nun endlich möglich machen. Herp Alpert, Charles Mingus und Horace Silver hätten es früher schon versucht – jetzt sei er an der Reihe, sagt Holland.

Der Bassist Charlie Haden, der Ende der Fünfzigerjahre zusammen mit dem Trompeter Don Cherry im Ornette Coleman Quartett an der letzten großen Revolution des Jazz beteiligt war, sieht in der aktuellen Krise der Musikindustrie hingegen keine besondere Chance. Er habe den Kategorien der Industrie und dem Definitionswahn der Jazzmafia schon vor drei Jahren den Kampf angesagt, als er für seine CD „Nocturne“ den Grammy in der Sparte „Best Latin Jazz Album“ erhielt.

Die Kompositionen des Mexikaners José Sabre Marroquin, die im Zentrum von Hadens aktuell für einen Grammy nominierter CD „Land of the Sun“ (Verve) stehen, zeichnen sich durch komplexe Harmonien und Struktur aus. Es gehe um die Schönheit dieser Musik, beteuert Haden immer wieder, sie sei seine wirksamste Waffe gegen die Politik der amerikanischen Regierung.

Wer Haden kennt, weiß, der Kampf geht weiter, und wenn es sein muss, an mehreren Fronten gleichzeitig. CHRISTIAN BROECKING