BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Abendbrot mit Dornröschen

Kinder müssen behutsam an die Kultur des Essens herangeführt werden? Klar! Aber nicht von uns Eltern

Renate Künast muss jetzt sehr tapfer sein. Es ist wieder Grüne Woche, und die Verbraucherministerin wird über gesunde Ernährung und dicke Kinder reden. Essen soll Spaß machen! Essen ist Kultur! Kochen und essen Sie mit Ihren Kindern! Nehmen Sie sich Zeit! Schaufeln Sie nicht einfach Kalorien in sich rein!

Das ist alles richtig.

Das ist alles Käse.

Baby Stan windet sich wie ein Aal in seinem Hochstuhl. Die Arme hat er zur Deckung vors Gesicht hochgefahren wie der junge Klitschko. Vor ihm sitzt mit brennender Geduld sein Vater. In der Hand den Löffel mit dem Biobrei. Mit Biomöhren. Und Biobananen. Gekocht mit Biowasser. Es hilft alles nichts. Neben ihm hängt Tina unbeweglich auf ihrem Stuhl. Die Luft über dem Tisch ist schon ganz löchrig von ihrem Starren. Ihr Ökobrot liegt unberührt auf dem Teller. Jonas stützt den Kopf auf die Faust wie der Denker von Rodin. Auch er ist irgendwo anders, jedenfalls nicht bei seinem Biosandwich mit Ökosalami und Cocktailtomaten. Sein Mundwerk steht still. Über unserem Esstisch hängt eine Lethargie von mecklenburg-vorpommerschen Ausmaßen.

Dann betritt Anna unser Dornröschenschloss. Sie holt das Spielebrett für Stan unter dem Tisch vor. Selig kann er nun an den Knöpfen fummeln und an den Rädchen drehen. Automatisch macht er den Mund auf, wenn der Löffel kommt. Hastig schaufele ich ihm den Brei in den Schlund. Tina bekommt ihre Puppe, die immer laut quietscht. Bei jedem Lachen stopfen wir unserer Tochter ein Stück Brot zwischen die Zähne. Und Jonas legt Anna den neuesten Lego-Katalog vor. Interessiert blättert er zwischen Piratenfestung und neuen Dinos hin und her. Ganz mechanisch geht dabei seine Hand zum Mund.

Hier müsste Renate Künast verzweifeln. Meine Kinder essen nicht mit Begeisterung. Sie essen nicht, wenn man sie zwingt. Sie essen, wenn man sie ablenkt. „Ganz normal“, sagt Anna bei unserem romantischen Frühstück hinter ihrer Zeitung hervor. „Überleg doch mal, wo man normalerweise Nahrung zu sich nimmt.“

Stimmt: beim Fernsehen das Abendbrot. Im Kino das Popcorn. Beim Autofahren die Schokolade. Beim Artikelschreiben die kalte Pizza. Beim Schmökern den Tee. Beim Partyflirten das Bier. Beim Marathonlauf die isotonischen Getränke. Beim Abendbrot der Kinder ein paar eilige Happen Fladenbrot. Wann haben wir uns das letzte Mal aufs Essen konzentriert? Bevor wir Kinder hatten. Wer nicht neben seiner Familie verhungern will, muss die Abläufe automatisieren. Frühstück fertig – ab in die Schule oder in die Kita. Abendbrot, zack, zack – dann ab ins Bett. Bis vor ein paar Jahren hätte ich mich gegen den Fließbandfraß gewehrt. Aber auch gegen eine Mikrowelle. Seit einem Jahr haben wir eine. Und mir fällt keiner der Gründe dagegen mehr ein. Vielleicht, weil ich keine Zeit mehr zum Nachdenken habe. „Aber es ist doch total wichtig, den Kindern beizubringen, was gute Ernährung ist“, hat unser Freund Frank gut reden, als er uns zum Abendessen besucht. Erst letzte Woche haben wir am Sonntag „gemütlich“ alle zusammen mit viel Zeit und Brötchen gefrühstückt. Nach drei Minuten Nutella-Geschmier war die Schlacht geschlagen.

Auch die letzte Hoffnung überforderter Eltern ist keine große Hilfe. Von einer Projektwoche „Gesunde Ernährung“ brachte Jonas die Erkenntnis mit: „Das Beste waren die riesigen scharfen Messer. Und wir dürfen nicht so viel Milch trinken.“

Milch ist ungesund? Da habe ich mit Jonas einen Handel geschlossen: Wir essen mal einen Tag lang nur ungesunde Sachen – aber er muss sie aussuchen und aufessen. Seitdem stecken Jonas und Tina dauernd die Köpfe zusammen und schmieden Pläne („Nein, keine Kiwis! Die sind doch total gesund!“). Und auch bei Baby Stan habe ich endlich ein Grundnahrungsmittel gefunden, das ihn so begeistert, dass er immer mehr davon will. Und in dem alles drin ist, was mein Kleiner so braucht: Ambroxohydrochlorid, Natriumbenzoat, Sorbitol und nicht mal Alkohol: Hustensaft.

Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zu Brei? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN