Anstand und Anschauung

Durch Bilder und Geschichten von Schicksalen wurden die Deutschen nach dem Krieg mit ihrer Schuld konfrontiert. Ohne das menschliche Moment ist auch 60 Jahre danach kein echtes Gedenken denkbar

VON JAN FEDDERSEN

Ihre Geschichte rührt – nicht nur, aber vor allem – in Deutschland zu Tränen; Anne Franks im Amsterdamer Versteck verfasstes Tagebuch war für Jugendliche im Nachkriegsdeutschland das wichtigste Dokument über das, was ihre Vorfahren Menschen jüdischer Herkunft angetan haben. Es gibt keine Untersuchungen darüber, wie sehr die Notizen des jüdischen Mädchens beitragen konnten zu dem, was als erfolgreiches Programm unter der Überschrift „Lernziel: Anstand“ firmierte. Schade.

Keine willigen Vollstrecker

Zur Erinnerung: Fast kein Bericht aus der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland kam ohne die Beobachtung aus, dass man es mit Menschen zu tun hatte, die seltsam gefühllos, kalt und herzlos wirkten und wohl auch waren. Hannah Arendt ließ gar nach ihren Reisen durch das Ruinendeutschland alle Hoffnung fahren, das Land und seine Menschen seien zivilisatorisch kurierbar. Abgestumpft, fern jeder Anteilnahme für das, was sie im Krieg in anderen Ländern anrichteten, was sie vor allem ihren jüdischen NachbarInnen antaten, wirkten sie, mehr mit eigenem Leid beschäftigt, servil den Besatzern gegenüber und auf den Schwarzmärkten knurrend um Schnäppchen bemüht.

Aber das Wunder geschah. Die Deutschen, in ihrer Mehrheit zumindest, genasen von der Hitlerei, sie lösten sich von der „Verhaltenslehre der Kälte“ (Helmut Lethen), welche auch in anderen Ländern anzutreffen war, aber, typisch deutsch, hierzulande am konsequentesten gelebt wurde. Ein Mentalitätswandel, den, vielleicht, nur jene verstehen, die die Fünfziger selbst noch erlebt haben. Die Deutschen, Parade-Objekte jener „autoritären Persönlichkeiten“, die Theodor W. Adorno in den Blick nehmen musste, Untertanen schlechthin, sind anders geworden. Dieser Mentalitätswandel, daran ist wenige Tage vor dem Holocaustgedenktag zu erinnern, hat gewiss mit Amerikanisierung zu tun – aber in puncto Holocaust mit einer beispiellosen Konfrontation der Täter und ihrer Erben mit dem Leiden, das sie verursachten.

Gelernt haben wir vor allem mit jener Serie, die in diesen Tagen Arte wiederholt: „Holocaust“ – oder wie eine Familie ausgelöscht wurde, weil sie jüdisch war. Diese Bilder und viele andere – wie das von dem verzweifelt-einsamen Jungen, aufgenommen im Warschauer Ghetto – haben uns gelehrt, besser: haben uns zu entscheiden geholfen, anständig zu leben. Menschen in Not zu helfen, politisch, finanziell, unabhängig von Herkunft, Rasse und Religion.

Anständig? Anstand? Sind das nicht Worte, die mehr moralisches Gewölk verbreiten als wissenschaftliche Klarheit verkörpern? Ja. Und das muss in puncto Nazivergangenheit und Vergangenheitsbewältigung reichen.

Niemand versteht mehr, was das war – ein SS-Mann. Ein Wehrmachtssoldat. Eine kollektiv-sadistische Fantasie. Niemand weiß mehr, was den Furor der Hitlerjugend ausgemacht hat. Und keiner kann so etwas wie Napola oder die Faszination des Hakenkreuzes noch begreifen, geschweige denn die gewisse Atmosphäre im Führerbunker.

Nazis? Obskure Aliens!

Nichts mehr lässt sich aus diesen Bildern lernen. Nazis? Nicht mal mehr gruselig, nur Aliens. Der Horror? Vorbei. Naziland ist abgebrannt, auch mentalitär. „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, flink wie ein Windhund“ – ein längst obskur klingendes Credo.

Schluss mit Kolloquien zu den Schößen, die noch fruchtbar seien (Bertolt Brecht). Statt schwarzer Volkspädagogik: mehr Geschichten und Bilder, solche wie die von Anne Frank oder vom Jungen aus dem Ghetto. Und auch, man darf es sich zumuten, solche, die unsere Vorfahren über ihre Tragödien berichten; in den Bombennächten von Hamburg, Dresden oder Köln.