Der indische Wohltätigkeits-Tsunami

Die indische Bevölkerung sonnt sich im Glanz ihrer großen Hilfsbereitschaft für die Flutopfer im eigenen Land. Während die vielen gespendeten Hilfsgüter neue Probleme schaffen, übersehen die Wohltäter gern die weit verbreitete strukturelle Armut

AUS CHENNAI BERNARD IMHASLY

„We want your Tsumoney!“ Der geschmacklose Spruch auf einer Plakatwand bringt die Botschaft dennoch auf den Punkt: Jeder Passant an dieser großen Kreuzung in Chennai (Madras) soll für die Tsunami-Opfer Geld spenden, am besten über die spezielle Tsunami-Abteilung einer Finanzgesellschaft, die ihr soziales Gewissen stolz präsentiert.

Die weltweite Wohltätigkeitswelle macht auch vor Indiens Küste nicht Halt. Auch hier gehört es zum guten Ton, unabhängig von Alter, Geschlecht, Einkommen und Herkunft seinen Teil zu entrichten. Künstler verschenken ihre Bilder, Schulkinder gehen betteln, Bettler und Lumpensammler opfern ihre Tageseinnahmen. IT-Ingenieure und Schulklassen gründen Sammelgruppen, Cricket-Spieler versteigern ihre Schläger, Harvard-Alumni und Rotarier adoptieren Dörfer und die Börsen zweigen einen Bruchteil ihrer Margen für die Tsunami-Kasse des Premierministers ab.

„Tsumoney“ ist nur eine der Spendewellen, die sich jetzt vom Land auf die Küste zubewegen. In den Räumen des Indischen Roten Kreuzes in Chennai stapeln sich Hilfsgüter bis zur Decke. Und wer sich nicht mit dem Schenken begnügen will, hat sich in den letzten Wochen gleich selbst auf den Weg gemacht, mit vollen Lkws oder in motorisierten Rikschas. Wasserflaschen und Saris wurden von Lkws herab verteilt, unabhängig davon, ob sich Leute gleich dreimal hinten anstellten oder bereits zuvor eine Ladung Wohltaten auf sie herabgeregnet war. Überall sieht man Haufen gebrauchter Kleider, die niemand tragen will, verdorbene Nahrungsmittel und Medikamente, mit denen die überwältigten Fischer nichts anzufangen wissen.

Inzwischen haben sich die Appelle der verantwortlichen NGO-Koordinatoren und staatlichen Administratoren in ihr Gegenteil gekehrt: „Bitte hört auf zu spenden!“, rief der Distriktchef Vivek Harinarain bei einer Fernsehsendung aus. Selbst Geldgaben stellen die Hilfsorganisationen vor das Problem rascher und gerechter Verteilung. Warenspenden und der Katastrophentourismus verstopfen die Verkehrs- und Verteilkanäle, so dass sie die Hilfe in ihr Gegenteil zu verkehren drohen. Es zeigt sich auch, sagt der NGO-Vertreter M. M. Thekaekara in Chennai, dass man sich mit dem Schenken des Nächstliegenden – Essen, Medikamente, Kleider – die weniger spektakulären, aber oft wichtigeren Anliegen vom Hals hält. So würden dringend sanitäre Anlagen benötigt, da die Fischer ihre Notdurft früher im Meer verrichteten, es nach dem Tsunami-Trauma aber nicht mehr zu tun wagen. Dies geschieht jetzt oft im weiteren Umkreis von Wasserzapfstellen, wo die Menschen auch ihr Trinkwasser beziehen. Damit erhöhe sich die Gefahr von Epidemien.

Die große Solidarität versprüht auch auf die Spender einen Schauer des Wohlgefühls, der nun ausgekostet wird. Jede zweite Firma präsentiert sich in ihrer Werbung als Tsunami-Wohltätigkeitsverein. Tsunami-Aktionen werden Thema von Cocktailgesprächen. „Es fehlt nur noch“, meinte ein NGO-Vertreter in einem Dorf bei Pondicherry, „dass sie sich wie bei der roten Aids-Schleife ein Tsunami-Abzeichen an ihr Revers heften.“

Aber es gibt auch Leute, die über die Motive dieses Massenphänomens nachdenken. Ist es die massive Medienpräsenz der Tsunami-Folgen? Ist die Solidarisierung auf die Plötzlichkeit des Unheils zurückzuführen, das einem Gottesurteil nahe kam und damit jeden zum potenziellen Opfer machte? Oder lieg es daran, dass dramatische Ereignisse mehr aufrütteln als Zustände, so schwerwiegend sie auch sein mögen?

Diese Fragen sind gerade in Indien von Gewicht. Denn „in unserem Land“, so meinte ein Teilnehmer der populären Fernsehschau „We, the People“, „passiert jeden Tag ein Tsunami“. Eine in der Flut von Tsunami-Berichten untergegangene Notiz in der Times of India erinnerte daran, dass in diesem Land jeden Tag 6.500 Kinder unter fünf Jahren an Mangelernährung sterben. Harsh Mandir, der Leiter von „ActionAid India“, erinnerte in der erwähnten TV-Sendung daran, dass, „während ich spreche, in dieser Nacht in dieser Stadt (Delhi) 50.000 Kinder sich bereitmachen, die Winternacht ohne geringsten Kälteschutz auf dem Straßenpflaster zu verbringen“. Viele Menschen, die in echtem Mitgefühl den Tsunami-Opfern zu Hilfe eilten, achten kaum auf die Slumsiedlungen, die sich vor ihrer Wohnungstür ausbreiten – und im globalen Dorf gilt dies für jede Wohnungstür.