Alltäglicher Missbrauch

Die bundesweite Kampagne „Kein Kind kann sich alleine schützen“ will Erwachsene dazu ermutigen, sich Hilfe zu holen, wenn sie glauben, ein Kind wird sexuell missbraucht. Start war gestern in Bremen

Das Mädchen spielt selbstvergessen im Garten mit einer Lupe. Was das Kleinkind durch das Glas betrachtet, ist nicht genau zu erkennen. Rote und grüne Quader, vielleicht ein Haus aus Knetgummi? Um so deutlicher ist das Lied zu verstehen, das ein Kind im Off singt: „Guten Abend, gute Nacht, vom Onkel ins Bett gebracht; schlupft mit unter die Deck’, nimmt die Hand nicht mehr weg. Morgen früh, so Gott will, wird es nicht mehr versteckt, morgen früh, so Gott will, wird es endlich entdeckt.“ Danach eine Frauenstimme, die etwas über sexuellen Missbrauch sagt und darüber, dass sich kein Kind alleine schützen kann. Eine Telefonnummer, „rufen Sie uns an, auch im Zweifelsfall“. 45 Sekunden, dann ist der Spuk vorbei.

Vielleicht dauert es bis zum nächsten Kinospot, bis man die friedliche Szene, die zarte Kinderstimme und die Brutalität des Textes zusammengebracht hat, vielleicht kommen die Tränen erst während der Marlboro-Werbung, vielleicht gar nicht, vielleicht erst beim nächsten Kinobesuch. Der gestern in Bremen erstmals gezeigte Film informiert über eine bundesweite Beratungs-Telefonnummer zu sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen.

Der Spot kommt nicht mit dem Holzhammer. Er braucht keine schrecklichen Bilder, um das Schreckliche begreifbar zu machen. Der Schrecken steckt in der Normalität. „Das ist Alltag, was da gezeigt wird“, sagt Ursula Müller von Schattenriss – der Bremer Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen – die sich gemeinsam mit Einrichtungen in Göttingen, Hamburg, Hannover, Kiel und Oldenburg der bundesweiten Kampagne ihres Dachverbandes „Kein Kind kann sich alleine schützen“ angeschlossen hat. Diese richtet sich an Erwachsene: Zum einen soll ihnen über die Nummer von N.I.N.A. – der neu gegründeten Nationalen Infoline, Netzwerk und Anlaufstelle zu sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen – die Möglichkeit gegeben werden, sich von Fachleuten beraten zu lassen, etwa wenn sie einen Verdacht auf sexuellen Missbrauch haben oder wenn sie sich generell informieren wollen. Zum anderen organisieren Einrichtungen vor Ort wie Schattenriss ein Veranstaltungsprogramm – immer mit dem Ziel, die Erwachsenen zu erreichen. „Ein Verdacht auf Missbrauch ist immer eine Krise, für Lehrer oder Erzieherinnen und noch extremer für Frauen, die ihre Männer verdächtigen – so etwas kann man nicht alleine bewältigen“, sagt Müllers Kollegin Solrun Jürgensen.

In manchen Gegenden fehlen die Ansprechpartner oder sind nicht bekannt. Dabei wüssten viele Menschen nicht, wie sie reagieren sollen, an wen sie sich wenden können, ob sie die Polizei einschalten müssen. Und tun aus lauter Verunsicherung und Ratlosigkeit vielleicht nichts – oder verhindern mit hektischem Aktionismus, dass einem Kind geholfen werden kann.

Initiator der Kampagne ist der Bundesverein zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen, sie wird privat finanziert. Bundesstart von N.I.N.A. ist am Dienstag in Berlin im Beisein des Regisseurs, des Oscar-Preisträgers Florian Gallenberger, parallel dazu wird die Telefonnummer freigeschaltet. Eiken Bruhn

N.I.N.A.: 01805 - 1234 65