Wachsame Nachbarn

Niedersachsens Politiker streiten sich über das Thema Bürgerstreife. Dabei laufen die Hilfssheriffs schon durch die Dörfer: In Arpke zum Beispiel wollen alle in der Bürgerstreife nur einen harmlosen Spaziergang mit offenen Augen sehen. Eine Reportage von Benno Schirrmeister

Stina hat sich den Aufkleber auch besorgt. „Man muss“, sagt sie, „sich einfach mal in die Psyche von so einem Einbrecher hineinversetzen“, und dann reißt sie die Augen sehr weit auf: „Der muss doch gleich nervös werden und sich umschauen“, sagt sie, „wenn er das an der Tür sieht“, und bewegt dabei den Kopf, als würde sie sich umsehen, ob jemand sie beobachtet – als wäre sie der Einbrecher, der vor ihrer Tür stünde, und den sie jetzt abschrecken würde, auch durch den Aufkleber, aber nicht nur.

„Vorsicht, wachsame Nachbarn!“, steht auf dem Sticker, der bei Stina am Hauseingang klebt, wobei allerdings Ralf frotzelt, dass Problem bei ihrem Häuschen sei, dass Stina gar keine Nachbarn habe, wofür er von ihr einen eher symbolischen Klaps bekommt. Das Gimmick hatte die Polizei bei der zweiten Sitzung der Bürgerstreife ausgeteilt, „wachsame Nachbarn“ in Signalfarbe. Die Bürgerstreife ist noch etwas ganz Neues in Lehrte-Arpke, aber schon ein bisschen Avantgarde, weil Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) mit den Plänen für ehrenamtliche Polizeihelfer gerade erst rausgerückt ist, und das auch nur, weil der FDP-Abgeordnete Jörg Bode vorgeprescht war. Nur ließ dann dessen Fraktionschef Philipp Rösler verlauten, das passe aber nicht zum liberalen Gesellschaftsentwurf. Die Grünen polemisierten, jetzt werde jeder Niedersachse seines nächsten Polizist, Sigmar Gabriel (SPD) kündigte eine Pressekonferenz an, und die Presseagenturen vermeldeten erregt, dass mit den Schünemannschen Gesetzesplänen „ehrenamtlich tätige Bürger in Niedersachsen erstmals die Möglichkeit“ erhielten, „sich um Sicherheit und Ordnung zu kümmern.“

In Arpke laufen sie hingegen schon eine ganze Weile Streife, noch nicht so lange wie im etwas kleineren Nachbarort Aligse, die machen das schon seit zehn Jahren, und von da hat der Herr Knopf das ja übernommen. Eigentlich müsste er längst da sein, der Herr Knopf, den die Gäste im Gasthof Braul alle nur den Detlef nennen, und über den sie nur Gutes zu berichten wissen; dass er als Einzelbewerber zum stellvertretenden Ortsteilbürgermeister gewählt worden ist, und dass er „eigentlich sehr zuverlässig“ sei, weshalb sie sich wundern, dass er noch immer nicht da ist, eine halbe Stunde nach dem verabredeten Termin, „und“ (mit gespieltem Entsetzen) „das kommt jetzt alles in die Zeitung!“ Ach was, kein böses Wort über Arpke, versprochen, zumal Manni auch für Fremde großzügig über den Eichstrich zapft und den Anruf bei Knopf zu Hause nicht berechnet. Aber auch da ist nur der Apparat dran, und das Mobiltelefon ist abgeschaltet.

Halb so wild: Schließlich sitzen auch beim Manni am Tresen kompetente Ansprechpartner in Sachen Bürgerwehr. „Bürgerstreife“, korrigiert Stina, und schüttelt die dunklen Locken, „nicht Bürgerwehr“, denn das fände auch sie „etwas ganz Schlimmes, was Rassistisches, so in Richtung Ku-Klux-Klan oder so“, während bei der Bürgerstreife, da macht sie auch mit, „das ist völlig harmlos – das ist nur ein Spaziergang mit offenen Augen“. Auch heute sind welche unterwegs, wirklich täglich von 16 bis 21 Uhr, weil dann die meisten Einbrüche passieren, immer mindestens zu zweit.

Arpke ist luftig gebaut, die Häuser oft allein stehend, die Straßen alle eine Nummer zu breit: Wenn Arpke in Italien läge, würden hier locker vier Autos nebeneinander fahren. Aber Arpke liegt nicht in Italien, die zuständige Polizeidirektion ist Hannover-Stadt, um 17 Uhr ist es stockdunkel, dünn gesät ein paar Laternen, deren weißes Licht es eher noch düsterer macht, und der Wind bläst kalt durch den Wintermantel.

Einmal täglich komme eine Polizei-Streife, da herrscht Einigkeit bei Mannis Gästen, „vielleicht sogar öfter“, aber die fahre halt bloß die Hauptstraße ab. „Sonst müssten sie nachher noch was tun“, poltert Ralf, und das Gesicht rötet sich, aber Stina knufft ihn: „Mensch, darum geht es doch gar nicht“, und schon grient er ins Glas und ist stumm. „Da, wo ich wohne“, sagt sie dann, „ist es schon ein bisschen einsamer.“ Das war für sie ein Grund, mitzulaufen, und auch findet sie es schön, vor einer Arbeitswoche einen ausgedehnten Spaziergang zu machen, und „das ist für die Dorfgemeinschaft auch klasse“.

Knopf könnte sicher genauer erklären, warum er in Arpke die Streife angeregt hat, aber der ist noch immer nicht da. „Wegen Einbrüchen“, weiß Ralf, und auf die Frage, wie viele es denn davon so gebe in Arpke, verweist er aufs Beispiel Aligsen. „Die hatten!“ Er wischt sich den Schaum aus den rötlichen Stoppeln. „Um 80 Prozent ist da die Rate gesunken.“

Die Ziffer möchte Kriminalhauptkommissar Uwe Kaßen nicht bestätigen. „So weit runtergebrochen ist unsere Statistik nicht.“ Aber: „Es hat verschiedene Festnahmen aufgrund von Hinweisen durch Bürgerstreifen gegeben“. Das böse, aus München kolportierte Wort von den Hundehäufchen-Patrouillen passe auf die vier Bürgerstreifen nicht, die seinem Kommissariat zugeordnet sind. „Man muss natürlich sehen, dass das hier sehr ländlich ist.“ Wenn in den kleinen Ortsteilen Lehrtes ein fremdes Auto dreimal um den Block fahre, könne das etwas bedeuten. „In einer Stadt lässt sich mit solchen Informationen wenig anfangen.“

Wozu auch? Seit Jahren ist die Diebstahlkriminalität in Niedersachsen rückläufig, das hat sich auch unter Minister Schünemann nicht geändert. „Der deutliche Rückgang“, so das Lagebild 2003, „ergibt sich aus den Fallentwicklungen beim Diebstahl aus Kraftfahrzeugen (-7.332 Fälle), aus Wohnungen (-3.631 Fälle) und von/aus Automaten (-6.328 Fälle).“ Aber warum dann die Gesetzesinitiative? „Das war schon im Koalitionsvertrag vereinbart“, sagt Schünemanns Sprecher. Und die Bürgerstreifen sollen ohnehin „nicht der Kriminalitätsbekämpfung“, sondern „dem subjektiven Sicherheitsempfinden“ dienen, das nicht mit der messbaren Entwicklung schritt halte. Der Anlass sei, dass man „beispielsweise in Hessen gute Erfahrungen damit gemacht“ habe. Wie die gemessen wurden, verrät er nicht, dafür aber, warum es ein Extra-Gesetz geben soll: Schünemann will, dass die Streifen „optisch erkennbar sind“ und er will ihnen „Sonderrechte einräumen“. Genau genommen nur noch eins, nämlich Platzverweise auszusprechen, was lustig werden kann, weil es den Ehrenamtlichen verboten bleibt, Leute zu verhaften oder Personalien aufzunehmen. Heute jedenfalls streitet der Landtag übers Thema.

Die Ortsversammlung an Mannis Theke wird immer vollständiger, nur Herr Knopf fehlt noch, und der Fotograf wird langsam unruhig. Schließlich lassen sich Stina und Ralf überreden, den Kneipen-Dunst mit der Kälte draußen zu vertauschen, rasch noch das Bier leeren, dann machen die beiden vor, wie das geht, Bürgerstreife. Parka und abgewetzte Lederjacke vom Haken, Stina schlingt sich das Palästinenser-Tuch um den Hals und zieht’s hoch. „Mensch das schneit ja.“ Dicke Flocken, die Taschenlampe flammt auf, die hat Manni zur Verfügung gestellt, Handy und Blöckchen braucht’s nicht, ist ja nur fürs Foto. Es werden Nummernschilder abgeleuchtet.

Der Soziologe Reinhard Kreissl lehrt am Hamburger Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung. Intensiv hat sich der Privatdozent mit der Frage des „zivilgesellschaftlichen Outsourcing“ befasst – also dem Trend, die Bürger stärker in die „Produktion von Sicherheit“ einzubinden. Von Privat-Streifen hält er wenig: „Das poppt ab und zu mal auf und dann vergeht es wieder.“ Problematisch daran sei, dass ihre Akteure die eigene Wahrnehmung durch die Frage riskant oder harmlos filtern – „trotz objektiv guter Sicherheitslage“. Also würde, anstatt abzunehmen, die Kriminalitätsfurcht sogar zunehmen? „Diese Art von Hilfspolizei“, so Kreissl, „kann zu einer Hysterisierung der Öffentlichkeit beitragen.“

„Großer Skatabend – in dieser Gaststätte“, steht auf dem orangen Plakat an der schlichten Holztür, die jetzt aufschwingt. Herein kommt ein Mann im Jogging-Anzug, kurzes dunkelblondes Haar, ein rundliches Gesicht, freundliche Augen, Hornbrille. Großes Hallo – „das kostet jetzt aber ein Bier!“ Kein Zweifel: Das ist der Herr Knopf, frisch geduscht und glatt rasiert. Der Vizebürgermeister von Arpke. Im Gemeinderat habe es eine Bürgeranfrage zur Sicherheit gegeben, erzählt Knopf, wie es dazu kam, dass die Arpker Streife laufen, und die sei nicht richtig bearbeitet worden. Das hat ihn geärgert. Wenn Herr Knopf sich ärgert, tut er etwas dagegen, so ist er ja auch in den Gemeinderat gekommen – wegen so einer Immobiliengeschichte, die ihn gestört hatte, die wohl nicht ganz koscher war. Herr Knopf will weder Uniform tragen noch Platzverweise aussprechen, sagt er, so etwas könne viel zu leicht eskalieren. Gut an Schünemanns Plänen sei nur, dass es eine Schulung geben soll. „Die Streife ist wirklich nur ein Spaziergang mit offenen Augen“, erklärt Knopf, ganz wie die anderen. „Manchmal“, sagt er noch, „gehen sogar die Kinder mit.“