Wo die Bierpreise noch ehrlich sind

In Sachen Kunst und Kultur gilt der Wedding als Brachland. Seit zwei Jahren ziehen Studenten und Künstler an den Gesundbrunnen und eröffnen Kneipen und Galerien. Verprenzlauerbergern wird der Kiez trotzdem nicht

„Der Wedding wird immer sein eigenes Profil behalten“

VON SUSANNE VANGEROW

„Der Wedding kommt“, sagt Lukas Born. Er muss es wissen. Der gelernte Stadtplaner arbeitet schon seit fünf Jahren fürs Quartiersmanagement Soldiner Kiez, ein Weddinger Viertel mit besonders schlechtem Ruf. Seit ein bis zwei Jahren beobachtet er, „dass die Wanderzirkus-Szene Berlin in den Wedding zieht“. Born meint damit die Künstler und Studenten, die schon den Prenzlauer Berg belebten. Der sei nun zu. In seinem Quartier gebe es hingegen noch das, was die Pioniere anzieht: billigen Mietraum und Bedarf an Kultur.

Born selbst hat im Frühjahr 2001 die Kolonie Wedding ins Leben gerufen. Einen Zusammenschluss von Künstlern, die sich mit ihren Ateliers rund um die Prinzenallee angesiedelt haben. Am Anfang gab das Quartier Mietzuschüsse und half bei der Öffentlichkeitsarbeit. Dafür organisieren die Ateliers einmal im Monat Vernissagen mit gemischtem Rahmenprogramm. Born wollte so der Kulturwüste Wedding zu mehr Kunst und Aufmerksamkeit verhelfen. Das klappte: Die Besucher – meist junges, kunstinteressiertes Publikum – kommen inzwischen aus allen Stadtteilen, immerhin ein Drittel auch aus dem Bezirk, so Born.

Aber auch unabhängig vom Quartiersmanagement sind Projekte entstanden. Im Frühjahr hat in der Nähe der U-Bahn-Station Wedding eine Galerie eröffnet. Der Raum ist hell erleuchtet. Große Gemälde hängen an den Wänden. Auf einem sonnt sich ein Mann im Liegestuhl. Ein anderes zeigt einen Schwan, mit aufgerissenem Schnabel. An diesem Abend findet in der scherer8 eine Vernissage statt. Galeristin Sabine Enders sitzt in einer Ecke des Raumes. Die 41-Jährige trägt einen orange Pullover und eine Brille. „Ich wollte schon immer etwas mit Kunst und Kultur machen“, sagt die Übersetzerin.

Im Wedding konnte sie ihren Traum verwirklichen. Die Ladenräume, die sie zusammen mit ihrem Freund und dem Künstler Hotch gemietet hat, standen lange leer. Mit dem Eigentümer konnten sie einen günstigen Preis aushandeln. Enders blickt in den Raum. Vor allem junge Leute stehen vor den Bildern, die meisten mit einer Flasche Bier in der Hand.

Im Nebenraum tanzt Robert Burkhardt zur Musik eines DJs. Der Architekturstudent ist ganz in Schwarz gekleidet. Erst im September ist er in den Wedding gezogen. Vorher hat er am Helmholtzplatz gewohnt. Die In-Gegend habe ihn aber genervt. An seinem neuen Kiez mag er das Multikulturelle und „dass alles echt ist“. Geschäfte bestünden schon seit 40 Jahren. Im Prenzlauer Berg sei alles ausgetauscht.

Noch einen Raum weiter findet eine Auktion statt. Die Künstlerin hat einige Bilder nur für den Verkauf gemalt. Die versteigert sie jetzt. Tim Schintholzer steht im Publikum. Auch der 28-Jährige mit den schwarzen Locken hat im Wedding einen Club gegründet. Die Ausstellung findet der Geschichtsstudent großartig. Mit der Galerie verbindet ihn eine angenehme Konkurrenz. In seinem eigenen Club will der Wedding-Pionier – so steht es auf der Club-Website – auch professionellere Künstler ausstellen.

Sein Vermieter, Johannes Rassow, hat sich gefreut, als Tims Club bei ihm eingezogen ist. Seit einem Jahr vermiete er immer mehr Wohnraum an Künstler und Studenten, sagt der Immobilienfachwirt. Rassow sieht darin ein Zeichen der Aufwertung des Kiezes. „Erst kommen die Studenten und Künstler, dann ziehen Architekten und Ärzte nach“, sagt er. Auch im Prenzlauer Berg habe ein solcher Prozess stattgefunden. Dieser könne sich allerdings über zehn Jahre hinziehen. Rassow hofft, dass die Leute mit Geld schon vorher kommen.

Kein Geld, aber Ideen hat Heiko Schmidt. Im Oktober hat er ganz in der Nähe der scherer8 das Kaffee Schmidt eröffnet. Schon vorher hat der gelernte Ergotherapeut mit abgebrochener Artistenausbildung ein Atelier im Soldiner Kiez betrieben. Im Holz und Farbe zeigte er Selfmade-Filme und Ausstellungen, nicht nur seiner eigenen Bilder. Weil die Abende gut besucht waren, kam er auf die Idee, sich mit einer Veranstaltungsreihe selbstständig zu machen. Er gründete eine Ich-AG und zog in die Gastronomieräume in der Schererstraße. Hier will er etwas aufbauen, wovon er leben kann. Der Mittdreißiger sitzt auf einem Barhocker im Eingang des Cafés. Abwechselnd unterhält er sich mit seinen Gästen, einem Hund und dem Barkeeper und erzählt, wie toll er es findet, „dass man im Wedding noch selbst Akzente setzen kann“.

In seinem Café will er Altes mit Neuem verbinden. Im Raum stehen niedrige Tische und Sessel mit Holzbeinen. Alles ist im 60er-Jahre-Stil gehalten. Aber an der Bar hat Schmidt Kegelpokale aufgereiht: Das Kaffee Schmidt hat auch zwei Kegelbahnen. Die stehen für das Rustikale im alten Arbeiterkiez. Jeden Donnerstagabend können Besucher drei Würfe zu 1 Euro machen, und wenn einer alle Neune schmeißt, bekommt er zwei Freigetränke.

Sandra Rohne jubelt. Trotz der schmalen Bahnen hat die Politikstudentin schon beim zweiten Wurf sechs Kegel umgeworfen. „Der Wedding ist cool“, findet sie. Sie wohnt zwar in Pankow, aber geht meistens im angrenzenden Westbezirk aus. Der habe noch Flair, sei nicht so szenig, sagt sie. Besonders gut gefallen ihr die Brauseboys, eine Weddinger Leseshow. Die Brauseboys treten oft im Laine-Art auf. Über einen Hof gelangt man zu dem alten Werkgebäude, das die beiden Finnen Teppo Jokinen und Jaakko Laine gemietet haben. Sie stehen hinter einem niedrigen Tresen im unteren Raum des Gebäudes. Laine rührt in einem Topf mit finnischem Glühwein. Jokinen verkauft selbst gebackenen Kuchen. Im Raum baumeln Christbaumkugeln an einem Kerzenleuchter. Die Fenster sind mit Eisspray bearbeitet.

Der Zufall hat das Pärchen in den Wedding verschlagen. Von Frankfurt sind sie vor zwei Jahren nach Berlin gezogen. Am Anfang haben Bekannte sie gewarnt: „Zieht bloß nicht in den Wedding.“ Aber bei dem dreistöckigen Werkgebäude konnten die beiden nicht widerstehen. Hier hat der Künstler Laine genug Platz für sein Atelier und kann auch noch sein Tourismus-Marketing-Büro betreiben. Im unteren Raum lesen die Brauseboys an diesem Abend selbst geschriebene Texte vor. Jokinen und Laine lachen, als einer der Autoren versucht, finnische Vokabeln nachzusprechen. Sie erzählen, dass sie selbst nicht viel ausgehen. „Schließlich kommen die Leute zu uns“, sagt Jokinen und weist in den Raum. Alle Sofas und Stühle vor der Lesebühne sind besetzt.

Hoch erfreut über den Zuzug der Künstler ist die Degewo. Das Wohnungsunternehmen hat viel Wohnraum im Quartier. „Wir wollen uns den augenblicklichen Wedding-Trend zunutze machen“, sagt Pressesprecherin Erika Kröber. Dass es den wirklich gibt, will das Unternehmen durch eine Umfrage unter jungen Kreativen herausgefunden haben. Sowohl an der UdK als auch an der Kunsthochschule Weißensee können sich Leute vorstellen, in den Wedding zu gehen. Mit einem Modewettbewerb bietet die Degewo nun zusätzliche Anreize. Den 15 Teilnehmern mit dem besten „Wedding Dress“ winkt ein Jahr mietfreie Nutzung der Gewerberäume am Gesundbrunnen. Der Wettbewerb läuft noch bis nächste Woche.

Schon mit einer anderen Aktion war die Degewo erfolgreich. Zwei Semester halber Mietpreis – damit lockte sie zu Semesterbeginn Studierende in den Soldiner Kiez. „Die Nachfrage war riesig“, sagt Kröber, „wir mussten ständig nachschieben.“ Lukas Born vom Quartiersmanagement hat die Studenten mit einem Willkommenspaket begrüßt. Er ist froh, dass in seinem Stadtbezirk nun etwas passiert, glaubt aber nicht an eine Aufwertung à la Prenzlauer Berg. „Der Wedding wird immer sein eigenes Profil behalten“, sagt er. Er mag diesen rauen Bezirk, „wo die Preise noch ehrlich sind“.

Wenn er aus seinem Bürofenster schaut, fällt sein Blick auf ein freistehendes Gebäude mit rotem Ziegeldach, großen Fenstern und weißem Anstrich. Noch vor ein paar Monaten blickte Born auf eine verrammelte, mit Graffiti beschmierte Bude. Künstler sind gekommen und haben sie auf Vordermann gebracht. Born erinnert sich noch an die Diashow, die sie darin aufgeführt haben. Toll habe das ausgesehen – und einen solchen Eindruck gemacht, dass der Eigentümer den ehemaligen Imbiss wieder vermieten konnte. Nun wird dort aber kein Sushi-Restaurant einziehen, sondern – ganz rustikal – eine Bäckerei.