Lokomotivpfiff und stilles Gedenken

Sechzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz fand auf dem KZ-Gelände eine offizielle Gedenkfeier mit Holocaust-Überlebenden und Politikern statt. Bundespräsident Köhler: Wer dieses Lager gesehen hat, kennt seinen Auftrag

OŚWIEĘCIM AFP/AP/KNA ■ Holocaust-Überlebende und Politiker aus aller Welt haben gestern mit einer zentralen Gedenkfeier an die Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz erinnert. Zum Beginn der Zeremonie an der Gedenkstätte ertönte der Pfiff einer Lokomotive. Er sollte die Todestransporte in das Lager im Süden Polens symbolisieren.

In einer Ansprache gedachte Simone Veil, die frühere Präsidentin des Europaparlaments, der bis zu 1,5 Millionen in Auschwitz ermordeten Menschen. „Was wäre aus ihnen geworden, aus den Millionen jüdischen Kindern, die in ihrer Kindheit und Jugend ermordet wurden, hier oder in den Gettos oder in anderen Todeslagern?“, fragte die 77-Jährige, die als Jugendliche nach Auschwitz deportiert worden war. „Ich weiß nur, dass ich weine, wann immer ich an sie denke, und dass ich sie niemals vergessen werde.“

Der frühere polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, ebenfalls Auschwitz-Überlebender, erinnerte daran, dass die freie Welt seinerzeit nicht auf die Berichte der polnischen Untergrundbewegung über das Geschehen in dem KZ reagiert habe. „Als ich im September 1940 auf dem Appellplatz von Auschwitz stand, als Schutzhäftling Nummer 4427, hätte ich niemals gedacht, dass ich Hitler oder den Zweiten Weltkrieg überleben würde“, sagte er. Die letzten noch lebenden Häftlinge von Auschwitz hätten ein Recht zu glauben, dass ihr Leiden nicht umsonst war. „Wir wollen glauben, dass das unvorstellbare Leid der Opfer dieses Ortes künftige Generationen verpflichtet, in Respekt vor der Würde jedes Menschen zu leben.“

An der Gedenkfeier nahmen unter anderem der israelische Präsident Mosche Katzav sowie seine polnischen und russischen Kollegen Aleksander Kwaśniewski und Wladimir Putin teil. Auch Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac und US-Vizepräsident Dick Cheney zählten zu den Gästen. Insgesamt waren hochrangige Vertreter aus mehr als 40 Staaten angereist. Deutschland wurde durch Bundespräsident Horst Köhler vertreten. Köhler hielt aber keine Rede bei der Gedenkfeier.

Während der Zeremonie war auch ein stilles Gedenken an der Rampe im Lager Birkenau geplant. Dort hatten NS-Ärzte einst die in Eisenbahnwaggons eintreffenden Häftlinge für den Tod in der Gaskammer selektiert.

Nach einem Rundgang über das Gelände des Stammlagers und einem Besuch des Krematoriums sagte Köhler, wer diesen Ort gesehen habe, müsse wissen, dass Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und die Verletzung der Menschenwürde weltweit bekämpft werden müssten. Auschwitz stehe für die Erinnerung an das größte Verbrechen der Menschheit: „Wir müssen daran arbeiten, dass sich so etwas nicht wiederholt.“

Israels Staatspräsident Katzav hatte am Vormittag im südpolnischen Krakow auf einer Konferenz des Europäischen Jüdischen Kongresses das Schweigen der Welt zum Holocaust beklagt. „Auschwitz muss den zentralen Platz im kollektiven Gedächtnis des vereinten Europa erhalten“, sagte Katzav.