„Keine Turbane auf der Regierungsbank“, lautet die Parole

Obwohl den Wahlsieg schon vor Augen, bleiben die Schiiten moderat. Nicht nur dem Ausland, Kurden und Sunniten zuliebe wollen sie Geistliche von Ministerposten fern halten

KAIRO taz ■ „Steh zu deiner Religion und zu deiner Gemeinschaft.“ Das Flugblatt richtet sich an die schiitischen Wähler im Irak. Es ist Ausdruck eines neuen schiitischen Selbstbewusstseins, das nun, kurz vor der ersten Parlamentswahl nach dem Sturz Saddam Husseins, seinen Höhepunkt erreicht. Die Schiiten, seit langem die größte Bevölkerungsgruppe im Land, stehen kurz davor, erstmals seit Jahrhunderten die dominierende politische Gruppe in einem arabischen Land zu werden. Unter vielen von ihnen herrscht das Gefühl, einem historischem Moment beizuwohnen. Die Religionsgemeinschaft stellt 60 Prozent der Wählerschaft, und wenn wie erwartet viele Sunniten – auch trotz des jüngsten Appells von US-Präsident Bush, rege die Stimme abzugeben – am Sonntag nicht wählen gehen, darf eine schiitische Mehrheit im neuen irakischen Parlament als gesichert gelten.

Welchen Weg diese Mehrheit dann einschlagen wird, ist allerdings weniger klar. Geht man nach der Anzahl der Ajatollah-Porträts auf den Wahlkampfpostern, drängt sich der Gedanke auf, dass ähnlich wie im Iran die schiitische Geistlichkeit das Land regieren wird. Verschiedene schiitische Parteien streiten gar darum, wer eigentlich das Recht hat, Iraks prominentesten schiitischen Rechtsgelehrten, Großajatollah Ali al-Sistani, auf seinen Postern verwenden zu dürfen. Bisher gilt: Copyright for all. „Der Ajatollah bezieht keine Position, was die Verwendung seines Bildes im Wahlkampf angeht“, ließ Scheich Abu Baqr, ein Sprecher al-Sistanis, dazu lapidar verlauten.

Doch der Schein trügt. Sind die Ajatollahs, die spirituellen Führer der schiitischen Gemeinschaft, jederzeit für Mobilisierungszwecke willkommen, scheint der derzeitige Konsens zu lauten: „Keine Turbane auf der Regierungsbank.“ Darauf hat sich zumindest die aussichtsreichste schiitische Liste geeinigt, die „Vereinigte Irakische Allianz“, eine breite Koalition aus schiitischen Parteien und Einzelpersonen, die wahrscheinlich fast ein Drittel der Parlamentssitze für sich gewinnen und damit als mit Abstand stärkste politische Kraft den Kern der neuen Regierung stellen wird.

Zwar führt Ajatollah Abdel Aziz Hakim, der Chef des Obersten Islamischen Revolutionsrates SCIRI, die Wahlliste an, aber es wird erwartet, dass er im neuen Irak nur als graue Eminenz die Fäden ziehen wird. Führende Mitglieder der Liste haben sich darauf geeinigt, dass der nächste Ministerpräsident kein Geistlicher sein soll. Uneins ist man sich nur darüber, ob das auch für das ganze Kabinett gelten soll.

Als aussichtsreichste Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten werden derzeit drei Namen gehandelt: Adel Abdel Mahdi, gegenwärtig Finanzminister und führendes SCIRI-Mitglied, Hussein Scharistani, ehemaliger Nuklearwissenschaftler, der sich mit Saddam überworfen hatte, sowie der Dawa-Präsident und derzeitige Vizepräsident Ibrahim Jaaferi, der von Beruf Arzt ist. Alle gelten als säkular. Mahdi kommt aus dem kanadischen Exil, ist mit einer Kanadierin verheiratet und hat in seiner Jugend mit sozialistischen Ideen geflirtet.

Die säkulare Ausrichtung der voraussichtlichen Wahlsieger ist im Realitätssinn der Schiiten begründet. Sie möchten im politischen Tagesgeschäft nicht vom Klerus geführt werden. Ein kurzer Blick auf den Nachbarn Iran ist den meisten genug, davon Abstand zu nehmen. Die Schiiten wissen, dass die eigentlichen Herren im Haus, die US-Besatzer, kaum eine irakische Regierung à la Teheran akzeptieren würden. Die Kurden, die die neue Regierung auf jeden Fall als Koalitionspartner braucht, würden ebenfalls nicht mitmachen. Eine schiitische Geistlichkeit als Regierung würde kurdische Unabhängigkeitsbestrebungen nur noch mehr verstärken.

Auch die sunnitischen arabischen Nachbarstaaten betrachten eine schiitische Macht in Bagdad mit allergrößtem Misstrauen. Das Gebot der Stunde für die irakischen Schiiten lautet also: moderat und bescheiden bleiben. Kein Wunder also, dass ihre politische Elite immer wieder betont, dass der Irak ein multireligiöser und multiethnischer Staat sei und auch die schiitische Mehrheit diesem Umstand Rechnung tragen werde.

Die Frage ist, wie lange dieser schiitische Konsens, die Geistlichkeit weitgehend aus der Politik herauszuhalten und trotz eines Wahlsieges nicht in Triumph gegenüber anderen zu verfallen, anhalten wird. Der Testlauf dafür steht schon bald an: Die wichtigste Aufgabe des neuen Parlaments, dessen Legislaturperiode laut Plan nur elf Monate dauern wird, ist es, dem Land eine neue, endgültige Verfassung zu geben. Dabei wird es auch darum gehen, die Rolle der Religion im Staat zu definieren. Für die Schiiten eine einzigartige Chance, dem Land auf Dauer ihren Stempel aufzudrücken. Spätestens dann wird sich auch zeigen, ob sich die Ajatollahs, wie jetzt ausgemacht, weiterhin damit begnügen, als spirituelle Vaterfiguren im Hintergrund zu wirken.

KARIM EL-GAWHARY