Verderben Gebühren das Studium?

ja
Gebühren werden an den Unis das ruinieren, was noch einzigartig war: eine vielfältige Kultur der selbständigen Aneignung von Wissen und Welt. Mehr erschöpfte Mitschreiber, weniger aufgeweckte Mitdenker.

Das gebührenfreie Studium ist eine zivilisatorische Errungenschaft, und die Einführung von Studiengebühren ist ein zivilisatorischer Rückschritt. Das gebührenfreie Studium, das ist die Einladung: Da ist der Campus, da sind die Bibliotheken, da ist das Wissen. Geh hin und hol es dir – die Welt ist größer, als du dachtest. In dem alten Slogan „Bildung für alle“ ist genau dies Versprechen aufgehoben: Wissen ist universell, es darf nicht gehandelt werden, es gehört dir schon, du musst es nur noch erwerben.

Dieses Versprechen ist nicht deshalb überholt, weil die verfehlte deutsche Schulpolitik dafür gesorgt hat, dass fast nur Akademikerkinder an der Uni landen. Es liegt nicht am gebührenfreien Studium, dass Arbeiterkinder es nicht an die Hochschulen geschafft haben, sondern an einer weltweit einzigartigen Bildungsselektion im Grundschulalter. Dadurch haben die Akademikerstände in der Tat dafür gesorgt, dass ihrem Nachwuchs später keine Konkurrenz durch helle Arbeiterkinder entsteht.

In einer absurden Verdrehung von Ursache und Wirkung aber behaupten die Studiengebührenfans nun, dass jetzt, nach vier Jahrzehnten Gebührenfreiheit, mehr Arbeiterkinder an die Hochschulen kommen, weil man sie dafür bezahlen lässt. Das Gegenteil wird der Fall sein. Und gerade die Opportunisten im rot-grünen Lager wissen das.

Dieselben Leute wagen es, Studiengebühren mit der Begründung zu fordern, dass die Kita ja auch etwas kostet. In Deutschland wird das Autofahren, das Hausbauen, das Erben und das Zuhausbleiben der Ehefrauen steuerlich gefördert: Und da wird Früh- gegen Hochschulbildung ausgespielt? Die Unis brauchen dringend Geld, aber nicht von den Studierenden, sondern vom Staat. Die nötigen Steuern müssen jedoch nicht nur von der gern als logische Gebührenbefürworterin beanspruchten Aldi-Kassiererin kommen. Sondern von den Wohlhabenden, denn auf deren Beitrag ist die Aldi-Kassiererin angewiesen, damit ihre Kinder endlich alle Bildungschancen haben.

Gebühren aber werden ruinieren, was an den deutschen Unis überhaupt noch gut und einzigartig war: eine breite, vielfältige, oft auch chaotische Kultur der selbständigen Aneignung von Wissen und Welt. Manche sprechen von Nischenkultur. Aber das hieße ja, es handelte sich dabei um ein paar marginalisierte Hanswürste, die an abstrusen pseudopolitischen Ritualen mitwirken. So aber wollen es bloß die Wirtschaftslobby und ihre Anhänger aussehen lassen. Und all die anderen Menschen, die sich einfach nicht vorstellen können, dass es mehr gibt als den eigenen Aufstieg zur kapitalgedeckten Alterssicherung.

Es sind vielmehr genau die Veranstalter autonomer Seminare, die Gründerinnen der dritten Frauenliste fürs StudentInnenparlament oder die Betreiber der entwicklungspolitischen Kaffeebude, die aus der Uni einen lebendigen Ort und auch aus den normalen Lehrplan-Seminaren schwungvolle Veranstaltungen machen. Studiengebühren werden doch aus apathischen Alles-Mitschreibern keine aufgeweckten Mitdenker machen, sondern bei vielen zur Erschöpfung führen: Zur Erschöpfung wegen mehr Lernstoffs in kürzerer Zeit kommt die Erschöpfung am Job, kommt der Gedanke an die Gebührenschulden.

Zu glauben, als zahlende Kunden werden die Studierenden den Professoren mehr Engagement abverlangen – also bitte. Für die Dichte des Informationsaustauschs zwischen Lehrpersonal und Student ist nicht die Gebühr, sondern das Zahlenverhältnis entscheidend: Entweder hat es der Prof mit 20 oder mit 200 Studierenden zu tun. Der Personalschlüssel – und nur der – begründet den guten Ruf des US-Studiums. Ansonsten forschen natürlich die Hochleistungsprofs in den USA auch lieber, als zu lehren.

Aber wer sich um mehr kümmert als seine Pflichtseminare, seine Frisur und das baldmöglichste Examen, braucht Zeit und Luft.

Die Studiengebühren sind nur der letzte, aber entscheidende Schritt, der Hochschule die Studienfreiheit auszutreiben. Bei dieser Freiheit geht es darum, nicht nur eine Karriere, sondern auch ein Verhältnis zur Welt zu schmieden, das sich etwas altmodisch als Idealismus bezeichnen lässt. Das heißt nicht, dass Idealismus nur an der Uni Platz hätte. Wer die Welt retten möchte, geht auch zur Kirche, zu amnesty international oder gründet einen Piratensender – nach der Arbeit. Der Job selbst lässt jedoch den wenigsten die Möglichkeit, sich moralisch zu verhalten.

Nur an der Uni lassen sich moralische und politische Ansprüche konsequent mit Wissenserwerb kombinieren. Dass es hierbei auch immer schon genügend Sektierer gab, die mit der Behauptung „Nur wir sind links“ ihre Profilneurosen austobten – geschenkt. Aber kein Grund, allen anderen die Möglichkeit zu nehmen, das Studium selbst zu gestalten. Der Zynismus schlägt schon noch früh genug durch.

ULRIKE WINKELMANN

nein
Verdorben ist das Studium in Deutschland längst. Das System der organisierten Verantwortungslosigkeit bevorzugt die Akademikerkinder und behindert die Persönlichkeitsentwicklung. Die Studiengebühren sind der letzte Ausweg.

An vielen Hochschulen haben Studenten und Professoren einen heimlichen Pakt geschlossen: Sie lassen sich gegenseitig in Ruhe. Die angeblich Lehrenden können sich getrost der Forschung widmen, und die vermeintlich Lernenden können – beschönigend formuliert – in freier Selbstbestimmung ihre Persönlichkeit entwickeln.

Dagegen wäre nichts zu sagen, gäbe es nicht zwei entscheidende Probleme. Erstens ist die lebensferne Universität ein denkbar ungeeigneter Ort für die Entwicklung der Persönlichkeit. Und zweitens profitieren vom herrschenden System nur die Abkömmlinge der akademischen Klasse.

In Deutschland ist das Studium ein Wagnis mit ungewissem Ausgang. In vielen Fächern kann niemand sagen, ob ein solches Unternehmen jemals zum Erfolg führt, und wenn ja, nach wie vielen Semestern. Wer studierte Eltern hat, bringt das nötige Grundvertrauen mit. Die anderen halten sich von der Hochschule im Zweifel lieber fern. Für Abiturienten, die sich den Luxus einer postmateriellen Haltung nicht leisten können, ist die Rechnung einfach: Schon ein einziges verbummeltes Semester kostet fast ebenso viel an Lebenshaltungskosten, wie jetzt für das ganze Studium an Gebühren kalkuliert wird.

An der Uni selbst sind die Chancen ebenfalls höchst ungleich verteilt. Den Studenten, die dort zum ersten Mal dem akademischen Milieu begegnen, bleiben dessen subtile Codes verschlossen. Sie sollen selbständig arbeiten – aber anders als Lehrer- oder Professorenkinder haben sie zu Hause nie gesehen, wie das in der Praxis funktioniert. Sie sollen sich vor anderen präsentieren – aber niemand hat ihnen je gesagt, wie man sich dabei anstellt. Sie sollen Seminararbeiten schreiben – aber sie bekommen zu Semesterbeginn lediglich ein Merkblatt in die Hand gedrückt, welche Formalia dabei zu beachten sind. Dagegen bieten Gebühren wenigstens die Chance zu einem fairen Pakt jenseits feingeistigen Dünkels: Die Studenten bezahlen, und dafür können sie auch eine Gegenleistung einfordern.

Noch krasser zeigen sich die Folgen pseudolibertärer Ausgrenzung auf dem Weg zur höchsten Weihe der akademischen Karriere, dem Professorentitel. Nirgends sind so viele Hochschullehrer selber Professorenkinder wie in Deutschland. Kein Wunder: An der Uni kann sich hierzulande keiner die Kniffe von den Professoren abschauen. Sie sind ja dort nie anzutreffen. Lieber arbeiten sie zu Hause, wo dann nur die eigenen Kinder von ihnen als Vorbild profitieren.

Auch aus biografischen Gründen ist das Regime der maximalen Unverbindlichkeit fatal. Jeden Tag pünktlich zur Arbeit zu erscheinen; Termine einzuhalten; sich nicht nur nach den eigenen Bedürfnissen zu richten, sondern auch nach jenen der Gesellschaft: Das ist ein Praxisschock, der in Deutschland viele Uni-Absolventen erst kurz vor dem dreißigsten Lebensjahr ereilt (und der auch nicht mit ein paar Nebenjobs zu simulieren ist). Er stürzt viele junge Akademiker, die Jahre in der universitären Kaffeebude zugebracht haben, in eine neuerliche Orientierungsphase. Erst mit Mitte dreißig, also nach der Hälfte des Lebens, haben sie den Kopf endlich für eigene Pläne frei. Damit wäre nicht zuletzt auch die Frage beantwortet, warum Akademiker in Deutschland so oft – unfreiwillig – kinderlos bleiben.

Glücklich ist, wer die lange Studienzeit für Erfahrungen in Beruf und Leben nutzen kann. An der Hochschule selbst sammelt man solche Erfahrungen nicht. Das sehen im Rückblick oft gerade jene so, die während ihres Studiums manches Seminar zusätzlich belegten, um sich noch mit diesem oder jenem Forschungsansatz vertraut zu machen. Im Nachhinein betrachtet, erwies sich der Ertrag oft als überaus gering. Würde durch das kostenpflichtige Studium manche Seminararbeit gar nicht erst geschrieben, wäre das auch kein Schaden.

Wer ernsthaft Wissenschaft betreiben will, ist mit einem Promotions- oder Aufbaustudium jedenfalls besser bedient als mit dem planlosen Herumprobieren während des deutschen Erststudiums.

Im Übrigen ist mit dem Ablegen eines Hochschulabschlusses auch hierzulande keineswegs das Recht verwirkt, gelegentlich einmal zu einem Buch zu greifen. Niemals zu Ergebnissen zu kommen und keine Abschlüsse zu machen – das gefährdet auf Dauer die Persönlichkeit, wie die Warteschlangen vor den psychologischen Beratungsstellen der Universitäten zeigen.

Zu den wenigen Dingen, die nicht für Geld zu kaufen sind, gehört Lebenszeit. Es erscheint kurios, dass nur finanzieller Druck zu einem sparsamen Umgang mit der knappsten aller Ressourcen animieren kann. Aber offenbar ist es so. Nachdem andere Reformversuche gescheitert sind, werden es einige unionsregierte Bundesländer jetzt mit Studiengebühren probieren. Schaden kann es auch nicht mehr.

RALPH BOLLMANN