WIEDERGELESEN: KLOPSTOCKS ODEN VON BENNO SCHIRRMEISTER
: Der gymnastische Namenswitz

„Gemeine Dichter wollen, daß wir mit ihnen ein Pflanzenleben führen“

Friedrich Gottlob Klopstock

Deutschlehrer erläutern ihn ungern. Aber irgendwann hat die Fachkraft doch zu erklären, wie dieser Name zur Chiffre der Zärtlichkeit geriet. Auf die stoßen Zehntklässler in der Pflichtlektüre Die Leiden des jungen Werthers. „Ich sah ihr Auge tränenvoll“, schreibt Goethe, „sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: ‚Klopstock!‘“

So geht’s: Der Dichter hat Erhabenes im Sinn – und landet einen Sado-Maso-Namenswitz. Weil er nicht ahnte, dass das Wort Klopstock heute nur noch an einen Knüppel denken lässt. Friedrich Gottlob war ja so wichtig! Noch 1803 begleiteten Tausende den Leichenzug von Hamburg zum Friedhof im damals dänischen Ottensen. Dessen tiefe Ruhe können selbst die Philologen der Uni Hamburg nicht stören, die seit 1962 an einer historisch-kritischen Gesamtausgabe werkeln; für wen auch immer.

Dass Klopstock keine Erwartungen mehr weckt, versetzt seine Schriften in den Stand der Unschuld: Das erlaubt Auslassungen. Kein Wort also über die Blut-und-Boden-Dichtungen des Kriegsdienstverweigerers, kein Wort vom religiösen Geflöt, und keine Zeile aus seinem ab 1748 sukzessive anfangs in Bremen veröffentlichten „Messias“: Niemand wird – Gottlob! – gezwungen, das Epos zu lesen, an dem er 30 Jahre bastelte, erst im Internat von Schulpforta, später in Kopenhagen und in Hamburg. Und schuf ein Folterinstrument: „Es kann keine größere Qual geben“, resümiert Karl Philipp Moritz die Lektüre-Erfahrung kurz, knapp und wahr.

Ganz anders die „Oden“, vor allem jene, die ab 1771 entstehen, während Klopstock zwischen seinem Arbeitsplatz am dänischen Hof und seinem Wohnort Hamburg pendelte – das allein dadurch zum literarischen Zentrum von Weltrang avancierte. Denn allerorten bildeten sich Zirkel zur gemeinsamen Klopstock-Lektüre, und so wie Marx-Lesekreise der 1970er Jahre vielen halfen, die richtige Parole zur rechten Zeit abzusondern, lernten Göttinger Hainbündler & Co. 200 Jahre zuvor an der passenden Stelle mitfühlend zu weinen, im Widerspruch zu ihrer rationalistischen Gesellschaft, in der die Emanzipation unterdrückter Emotionen extreme revolutionäre Sprengkraft besaß.

Wieso, das lässt sich da in seiner Lyrik verstehen, wo sie sich mit den Bedingungen des Dichtens befasst, oder der Gymnastik. Das ist nämlich – für Klopstock – das Gleiche: Nur „gemeine Dichter wollen, daß wir mit ihnen ein Pflanzenleben führen“, schreibt er. Gute Lyrik dagegen versetzt die Seele „in Aktion“ und ist selbst „ein Tanz“. Sprache bewegen, durch Sprache Seele bewegen – das kann nur der Bewegte: Befreiung des Körpers befreit die Gefühle.

Schon ältere biografische Berichte attestieren dem am 2. Juli 1724 in Quedlinburg geborenen Klopstock eine „Vorliebe für gymnastische Übungen“, denen „der Dichter beim gesundesten Körper durch sein ganzes Leben treu blieb“. Das Motiv sportiver Betätigung – Hölderlin, Goethe, Schiller fern und Heine verhasst – existiert bei ihm vielfältig, und nicht nur in diversen Eislauf-Gedichten. Deren letztes ist das schönste: Mit 73 Jahren schreibt Klopstock die Ode „Winterfreuden“. Ein irreführender Titel: Es ist tieftraurig und spielt nicht im Winter. Als „Flügel des Stahls“ oder als „Wasserkothurn“ – ein Kothurn ist der Stelzenstiefel der antiken Tragöden – dichtet er darin seinen Schlittschuh an. Weil’s fortan nichts mehr sein wird, mit dem Eislaufen: „Also muß ich auf immer, Kristall der Ströme, dich meiden?/ Darf nie wieder am Fuß schwingen die Flügel des Stahls?/ Wasserkothurn, du warest der Heilenden einer; ich hätte,/ Unbeseelet von dir, weniger Sonnen gesehn!/ Manche Rose hat mich erquickt; sie verwelkten! und du liegst,/ Auch des Schimmers beraubt, liegest verrostet nun da!“

Die Rosen sind welk, die Kufen rostig, die Flügel lahm, und mit der Bewegung bleiben Heilung, Visionen, Beseelung aus. Der Abschied vom Eislauf gerät so zum Abschied von der Poesie, die Perspektive heißt nicht Frühling sondern Verdämmern in den Tod: Nüchtern und ungeschönt besingt der Bewegungsbegeisterte die Mobilitätseinschränkung des Alters. Gerade aber weil er als Prophet des Körperkults diesem treu bleibt, wo er dessen Erbarmungslosigkeit spürt, ist das ergreifend; noch immer – oder jetzt erst recht.