Bewegte Geschichte einer Stadtkirche und ihrer Turmwohnung
: St. Johannis: Nach den mittelalterlichen Wachposten kam die SS

Über Jahrhunderte hatte der Nordturm der evangelischen St.-Johanniskirche als Aussichtspunkt gedient, um Feuer in der Stadt schnell auszumachen. Nun ist das Wahrzeichen Göttingens selbst in Flammen aufgegangen – und das kurz vor dem Abschluss aufwändiger Restaurierungsarbeiten.

Die spätgotische, rund 650 Jahre alte Kirche mit ihren ungleichen Doppeltürmen, die den vormaligen Zehn-Mark-Schein zierten, liegt im Zentrum Göttingens innerhalb eines Walls, der die Altstadt umschließt. Dem entsprechend fiel der Kirche, die sich bis 1972 in Besitz der Stadt befand, in der Vergangenheit eine zentrale Funktion zu. In der Umgebung Göttingens sind noch heute Wachtürme zu besichtigen – so genannte Warten – von denen aus herannahende Gefahren weitergemeldet wurden an die „Türmer“ der Johanniskirche, die dort ab dem Jahr 1412 im Nordturm eine zweistöckige Wohnung bewohnten. Durch viertelstündliches Hornblasen mussten die Türmer anzeigen, dass sie aufmerksam über die Stadt wachten. Die letzte Turmwache zog 1921 aus der Wohnung aus.

In der NS-Zeit nutzte dann die Schutzstaffel (SS), die Hauptträger des nationalsozialistischen Terrors war, die Bleibe als Versammlungsort. Als Heimstätte für Studierende diente die Wohnung nach 1945. Gleich fünf Hochschüler teilten sich anfangs die Türmerwohnung. Später beherbergte sie dann zwei Bewohner, meist Theologiestudenten.

Zwar hatten diese keine Miete zu zahlen, trotzdem war ihr Aufenthalt in Deutschlands höchstgelegener Studentenbude mit Auflagen verbunden. An Sonnabenden mussten die Bewohner zu den offiziellen Turmöffnungszeiten Touristen herumführen. Diese Aufgabe wussten die Studierenden durchaus auch zu ihrem Vorteil zu nutzen. Da die Türmerwohnung kein fließendes Wasser bot, baten sie die Heraufkommenden, einen Eimer Wasser mitzubringen. Immerhin galt es 238 Stufen zu überwinden.

Im Jahr 2001 begannen Sanierungsarbeiten an den beiden baufälligen Türmen der Kirche, die Wohnung wurde gesperrt. Das Bauordnungsamt verwies im Zuge dieser Arbeiten darauf, dass ein zukünftiger ständiger Aufenthalt in der Türmerwohnung an strenge, kostspielige Auflagen geknüpft sei. Zwischen der hannoverschen Landeskirche, dem Land Niedersachsen, der Kirchengemeinde und der Stadt Göttingen entbrannte daraufhin ein Streit um ein mögliches Finanzierungskonzept, der erst nach langem hin und her beigelegt werden konnte. Im Verlauf dieser Reibereien hatte die Landeskirche gar mit dem Abriss der Türme gedroht.

Dass der Nordturm nun auch weiterhin touristisch genutzt werden sollte, hatte der Bauausschuss des Stadtrates erst vor wenigen Wochen bejaht. Als ständiger Wohnsitz wird der Turm allerdings nicht mehr dienen. Am 30. April wollte die Gemeinde ein Fest anlässlich des Abschlusses der Sanierung feiern. Insgesamt kostete diese mehr als sieben Millionen Euro. hsc