Tango mit Murmeln

Vom Versuch, die Zeit zusammenzufalten: Literaturhaus-Programmleiterin Ursula Keller wird ab morgen andere Orte bespielen. Ein Porträt

von Petra Schellen

Immer diese Zerklüftungen! Immer dieses Leck zwischen Sehnsucht und Realität, zwischen Erinnern und Vergessen! Und immer dieses mühsame Wachrütteln von Kindheitsbildern, die einem durch die Finger rinnen. Die einfach nicht kommen wollen, wenn man sie ruft. Und, fast schlimmer: dieses nachtblinde Umhertappen zwischen dem selbst Erinnerten und dem, was die Eltern erzählen: Im polnischen Lódz (Lotsch) ist die heute scheidende Literaturhaus-Programmleiterin Ursula Keller geboren, 1940 hieß das Jahr. Kein angenehmer Moment und Ort, um zur Welt zu kommen, hatten die Nazis die Stadt doch gerade „Litzmannstadt“ genannt und ein riesiges Ghetto errichtet. Es kostete 250.000 Juden das Leben.

Eine Geschichte, die sich ins Gedächtnis Ursula Kellers nicht eingraben konnte, und die doch das Panorama bildet, das die Vita der späteren TAT-Dramaturgin und NDR-Journalistin hinterfängt. Ein krasser Kontrast auch zu Kellers Wünschen, die viel lieber im Paris der 20er Jahre gelebt hätte und ihre Doktorarbeit über Arthur Schnitzler schrieb.

Wende- und Unentschlossenheits-Zeiten faszinieren sie; verspielt hat sie ihre Wohnung dekoriert. Zwei Puppen hängen über dem geschmackvoll geschwungenen Sofa. Ursula Keller lächelt. Und die goldgrundigen Tassen stammen nicht aus Indien, sondern aus dem Laden nebenan: „Das Abenteuer beginnt gleich um die Ecke“, sagt Ursula Keller, die sich gerade vom Tsunami in Sri Lanka erholt. Ein Ambiente, das wenig gemeinsam hat mit ihrer Geburtsstadt, einem Zentrum frühkapitalistischer Industriearchitektur.

Doch an die Jahre dort erinnert Ursula Keller sich kaum: „Meine Vater war französischer Offizier, meine Mutter Polin. Zu Hause wurde Deutsch und Polnisch gesprochen.“ Das Polnische beherrscht sie nicht mehr; zu intensiv waren Kindheit und die Flucht 1944 mit Mutter und Schwester: „Es muss da sehr traumatisierende Erlebnisse gegeben haben in diesen Zeiten der ständigen Fliegerangriffe, die wir oft nur knapp überlebten.“ So ganz versteht sie diese blinden Flecken nicht: „Meine Mutter sagte immer, ich hätte keinen Grund, irgendetwas zu verdrängen, weil meine Kindheit besonders glücklich gewesen sei.“

Irgenwann gegen Kriegsende ist die Familie in Braunschweig angekommen, „wo ich eine abenteuerliche Kindheit zwischen Trümmern verlebt habe“. Natürlich habe sie später viel über die Nachkriegsjahre gelesen. „Aber empfunden habe ich diese kollektive emotionale Stumpfheit damals nicht.“ Auch Erinnerungen an Not und Hunger stellen sich nicht ein. Dafür aber die wache Wahrnehmung der eigenen Zerrissenheit: Sie sei ein lesendes, aber wildes Kind gewesen, das „Sprünge vom Zehnmeter-Brett, ohne schwimmen zu können und halsbrecherische Spiele in zerstörten Häusern“ liebte.

Warum sie das alles tat? „Ich hatte von irgendwoher die Gewissheit mitgenommen, dass ich einen Schutzengel hätte. Dass ich überleben könnte, wenn alles um mich herum zusammenbräche.“ Gern erinnert sie sich an bestandene Kämpfe, erzählt wie Sheherazade davon. Leben auskosten: Ist es das? Vielleicht – jedenfalls so lange man frei wählt und sich zur Not zurückziehen könnte aus dem Kick. „Obergrenze der Realität“ steht auf einem Email-Schild auf ihrem Bücherbord; eine saubere Linie wurde schwarz auf weiß eingraviert.

Doch wer definiert, wo Realität und Wunsch verschwimmen? Und selbst wenn man gut geerdet ist: Lohnen sich allen Ernstes noch Visionen? „Ich glaube, dass unserer Gesellschaft das Gefühl für die Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten, verloren gegangen ist.“ Dabei könne man, wenn man wolle, „eine Menge tun, um so zu leben, wie man möchte“. Sagt sie und gibt dann zu, „dass vieles im meinem Leben Zufall war. Ich wusste zwar schon immer, wohin ich wollte. Aber ich habe das nie geplant, sondern im rechten Moment kam immer das passende Angebot vorbei: 1980 beim NDR das Bücherjournal, 1985 das Theater, 1992 die Programmleitung des Literaturhauses.“ Letzteres als Chance, Theater, Literatur und Kunst zu verbinden.

Das alles hätte sie, wäre ihr Vertrag verlängert worden, gern weiterhin getan – „aber vielleicht hat alles seine Zeit“. Auch künftig will sie Lesungen und Podien anbieten. Detaillierte Pläne müssen noch reifen. Diese Zeit nimmt sie sich; die habe sie für alle Lebensphasen gehabt. „Meine Kindheit war lang, die Jugend auch: Wie sonst wäre zu erklären, dass ich mit 16 noch Murmeln auf dem Hof gespielt habe und dann mit meinen schmutzigen Murmelfingern zur Tanzstunde ging?“ Ein trotziger Versuch, zwei Phasen gleichzeitig zu leben: Wer soll einen hindern, erwachsen zu sein und zu spielen, ernst zu sein und verkleidet, mit Worten zu jonglieren und zu stechen?

Und warum soll nicht eine Germanistin ein Semester lang römisches Recht hören? 40 Semester hat Ursula Keller studiert, parallel immer journalistisch arbeitend. „Ich bin froh über diese lange Zeit. Ich habe das kommunikative universitäre Leben genossen und mich sehr wohl gefühlt in dieser geistreichen ,gesprächigen‘ Atmosphäre.“

Und später? Hat sie ihr „libidinöses Verhältnis zu Sprache“ zum Beruf gemacht, hat Porträts von Dunja Barnes, Virginia Woolf und Brigitte Kronauer erstellt, jedoch nicht aus vehementem Feminismus heraus. „Das hatte ich hinter mir. In meiner Studienzeit war ich nicht nur in der Studentenbewegung, sondern später auch in der Frauenbewegung aktiv, aber nur in der kreativen, anarchischen Anfangsphase. Sobald Erstarrung, Ideologisierung und Hierarchisierung einsetzten, habe ich diese Bewegungen verlassen.“

Anarchie ... ein bisschen fängt sie an zu träumen, wenn sie das sagt; die Sehnsucht nach Freiheit lugt hervor, die sich so schlecht mit dem Alltag verträgt. Ursula Keller weiß um diesen Zwiespalt, kennt keine Lösung. Und ahnt, dass die wahren Macht-Ohnmacht-Spiele woanders stattfinden: im Zusammenprall mit der Natur – mit dem apokalyptischen Tsunami auf Sri Lanka zum Beispiel. Ursula Keller hat ihn überlebt, stählern an eine Palme geklammert. Sie erzählt davon, erwähnt, dass sie immer ein Urvertrauen gehabt habe. Sie steht auf, holt die Brille. Gießt Tee nach, lächelt und plaudert wie zuvor. Wenn da bloß dieses Zittern nicht wäre.