Exportschlager Theater

Kettenreaktion: Nicht nur die deutschen Bühnen profitieren vom Austausch mit Regisseuren aus den Niederlanden und Belgien, auch dort wächst das Interesse an Theater aus Deutschland. Heute kommt Guy Cassiers aus Rotterdam ans Haus der Festspiele

VON SIMONE KAEMPF

Beim Betreten der Rotterdamer Schouwbourg erkennt man sofort die Herkunft des Western-Holzhäuschens, das im Foyer steht. Das Blockhaus mit der Aufschrift „Kunst gegen Kohle“ hat Bert Neumann für Frank Castorf gebaut. Nach einem Volksbühnen-Gastspiel im Herbst ist es als Sperrgut in Rotterdam zurückgeblieben und macht sich jetzt ganz gut als rustikaler Exportartikel inmitten des modernen Glas- und Stahl- Theaterbaus, auch wenn man nicht weiß, wie die Bezüge zu den Verteilungskämpfen der Gegenwart hier noch genutzt werden.

Aber erst mal ist klar: Die Neugier auf das deutsche Theater ist in den Niederlanden gewachsen. Sie lässt sich am besten als Kettenreaktion auf die besondere Präsenz der Niederländer und Belgier an den deutschen Theatern verstehen. Heute Abend gastiert das Ro Theater bei den Berliner Festspielen und das ZT Hollandia im HAU. Johan Simons, Mitgründer des ZT Hollandia, hat in Stuttgart, Zürich und München inszeniert und ist jetzt von Castorf an die Volksbühne gerufen. Luk Perceval wird im Sommer die Leitung des Antwerpener Toneelhuis abgeben und als Regisseur fest an die Schaubühne wechseln – vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung in Richtung Deutschland, die begann, als er das 1997 aufgeführte, neunstündige „Schlachten!“ am Hamburger Schauspielhaus erarbeitete. Eine Reise durch hundert Jahre Shakespeare’sche Rosenkriege, die Percevals Anliegen sehr nahe kam: dem Theater eine andere Dimension zu geben.

Zu diesem Zeitpunkt beriefen sich jüngere Regisseure wie Falk Richter oder Stephan Kimmig auf prägende Arbeitserfahrungen aus dem Benelux-Raum: Stücke erst im einem Probenprozess zu entwickeln, in denen der Text nicht die Ausgangsbasis, sondern das Endprodukt bildet. Das Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte von Regisseur, Autor, Schauspieler anstelle eines Autoritätenkults hat in den Niederlanden viel früher als im deutschen Theater emanzipatorische Kräfte in alle Richtungen entwickelt und sich damit teils schon wieder selbst überwunden. Die Arbeitsweisen wechseln mit den Stoffen und entziehen sich einer Kategorisierung. Ein Umkehrschluss ist daher daraus möglich: dass die Erhaltung der Kunstform Theater hier noch viel stärker als anderswo mit ihrer Weiterentwicklung verbunden ist.

Sucht man nach Spuren des Ursprungs, wandert man irgendwann in Rotterdam die schnurgerade Haupt-Gracht entlang, die zum Sitz des Ro-Theaters führt. Abends herrscht über der Stadt ein designtes Metropolenleuchten, Architekten haben für Grachten wie Wohnhochhäuser futuristische Beleuchtungskonzepte entworfen, die einem begeistert den Kopf verdrehen. Am nächsten Morgen folgt die Ernüchterung: grau ist die Stadt, wie ausgestorben, auseinander gerissen durch überholte Planungskonzepte der 50er-Jahre. In der Arbeiterstadt erzielte Pim Fortuyns rechte Partei 2002 den ersten erdrutschartigen Sieg.

Sind das Differenzen, aus denen man produktive Funken schlägt? „Nicht direkt“, sagt Alize Zandwijk, die seit 1998 zusammen mit Guy Cassiers das Ro-Theater leitet. Lieber beschäftigt sie sich auf abstrakterer Ebenen mit den Problemen und geht auf bewusste Distanz. „Eigentlich mag ich die Stadt nicht.“ Aus solcher Außenseiterperspektive folgt auch in ihrer Inszenierung der Zugriff. Ob in Tschechows „Iwanow“, den sie im vergangenen Sommer am Hamburger Thalia-Theater inszenierte, oder in „Katzenmoor“ der irischen Autorin Marina Carr, vergangenen Juni auf dem Festival Theaterformen zu sehen, wo sie so schlicht wie eindringlich die Geschichte einer Frau erzählt, die sich nicht in die Dorfgemeinschaft einpasst. Dunkel und düster wie ein Tierstall war die Bühne, und die Figuren durchpflügten mit jedem Schritt durch den Torfmull auch die Probleme, für die es keine Lösung gibt. „Ich habe eine Liebe zur Erde und zum Dreck. Und ich will, dass die Schauspieler mit beiden Beinen auf dem Boden stehen“, sagt Zandwijk.

Ein Hang, der sie wiederum mit Johan Simons verbindet, nur dass ihre Oberflächen brüchiger und morbider bleiben. Wie die ZT Hollandia verfügt das Ro-Theater über den Luxus eines festen Ensembles und über eine eigene, sehr kleine Spielstätte. Auf die permanente Präsenz in einer Stadt zielt die Arbeit jedoch nicht. Aufgabe ist es, die Schouwbourgs, Theaterhäuser ohne eigenes Ensemble, überall im Land, zu bespielen.

Die Trennung von Kunst und institutionellem Ort hat das System flexibel gehalten und ein Nebeneinander provoziert – im Fall des Ro-Theaters leiten Alize Zandwijk und Guy Cassiers das Theaterensemble gleichberechtigt und führen als Regisseure doch ein Dasein von ganz gegensätzlichem Zuschnitt. Cassiers hat für das Epische von Marcels Proust „Suche nach der verlorenen Zeit“ eine Form entwickelt, die perfekten Erzähloberflächen aufzubrechen. „Im Film fährt ein Auto vorbei, und wir hören das Motorengeräusch vorbeiziehen. In der Realität ist das nicht der Fall. Ich sitze hier und rede, mache dazu eine völlig unpassende Armbewegung und vor dem Fenster fliegt ein Flugzeug vorbei. Das interessiert mich auch auf der Bühne.“

Cassiers nutzt die Differenz von Film und Theater, zeichnet die Figuren auf der Bühne messerscharf und nutzt die Möglichkeiten der Videoleinwand, um in Zeiten und Stimmungen zu springen. Die atmosphärischen Bilder schließen den Proust’schen Strom der Erinnerung in verschiedenen Ästhetiken auf. Sehr präzise, genau, fast chirurgisch wirkt das im dritten Teil „In Charlus’ Welt“. Die Premiere von Teil vier wird im Frühjahr den Zyklus beenden. Cassiers wird dann nach acht Jahren das Ro-Theater verlassen und den Posten von Luk Perceval im belgischen Antwerpen übernehmen.

Einen neuen Co-Leiter hat Zandwijk schon gefunden: einen nicht inszenierenden Intendanten, ausdrücklich nach deutschem Vorbild. Nicht ohne Bewunderung spricht sie von der deutschen Theatertradition, von der besonderen Aufmerksamkeit des Theaterpublikums, den „zum Verrücktwerden“ guten Schauspielern. Das ist nicht bloß ein Lob, sondern zeigt auch die Herausforderung, die im Aufeinandertreffen verschiedener Theatermodelle steckt.

„Proust 3: In Charlus’ Welt“. Im Haus der Festspiele, heute 19 Uhr; „Zwei Stimmen“ von ZT Hollandia, heute und morgen, HAU 1, 19.30 Uhr