„Was kommt, ist die Kür“

Florian Kehrmann, Kapitän der deutschen Handball-Nationalmannschaft, berichtet vor dem heutigen Beginn der WM-Zwischenrunde vom Teamgeist, seiner neuen Rolle und Tunesiens Winter

INTERVIEW FRANK KETTERER

taz: Herr Kehrmann, wie kalt ist Ihnen?Florian Kehrmann: Ach, hier im Mannschaftshotel geht es, da ist es schön warm. Aber draußen ist es derzeit nicht so gemütlich. Tunesien hat halt einen Jahrhundertwinter erwischt, damit hat wohl keiner gerechnet. Und entsprechend kalt war und ist es eben auch in der Sporthalle. Es ist zwar nicht schön, wenn es dort nur 14 Grad hat, aber damit müssen wir leben.

Dann gefällt es Ihnen trotz der Kälte in Tunesien?

Das ist alles perfekt: Unser Hotel, das Essen und auch die Trainingshallen sind im Prinzip gut. Uns werden hier alle Wünsche erfüllt, und wir werden bestens behütet.

Behütet?

Ja! Kürzlich haben wir einen Strandlauf gemacht, und als wir uns umgucken, rennt da ein Sicherheitsbeamter in Lackschuhen und Anzug hinter uns her. Die waren wohl in Aufruhr, weil wir plötzlich aus dem Hotel verschwunden waren. Auf dem Rückweg wurden wir sogar von zwei Polizeiwagen begleitet.

Herr Kehrmann, was hat Sie an der Mannschaft bisher am meisten überrascht?

Ich will viel lieber sagen, was mich nicht überrascht hat. Nämlich die Tatsache, dass wir als Mannschaft so harmonieren. Man merkt einfach, dass hier alle zusammen etwas erreichen wollen – und zwar als Team. Eine junge Mannschaft kann nur so überleben. Dieser Mannschaftsgeist hat uns früher stark gemacht – und er macht uns auch jetzt stark.

Der Vergleich mit dieser alten Mannschaft, in der noch Stars wie Schwarzer, Petersen, Kretzschmar und Zerbe gespielt haben, ist bei dieser WM allgegenwärtig. Wie sehr nervt das?

Das nervt keinen. Schließlich haben viele, die jetzt neu in die Mannschaft gekommen sind, von diesen so genannten Alten profitiert; selbst die Qualifikation für die WM hat ja noch die alte Mannschaft geschafft.

Wenn Sie das derzeitige Leistungsvermögen mit dem der alten Mannschaft vergleichen: Wo steht das aktuelle Team?

Die alte Mannschaft hatte eine ganz andere Konstanz – und wahrscheinlich wird man das auch in der Zwischenrunde wieder erleben. Wir sind zwar durchaus in der Lage, eine Überraschung zu schaffen, aber ob wir drei Spiele auf einem so hohen Niveau spielen können wie gegen Norwegen, muss man abwarten.

War dieses Vorrundenspiel gegen Norwegen die Reifeprüfung der Mannschaft?

Man kann nicht ein einziges Spiel als Reifeprüfung bezeichnen. Das war vielmehr eine Entwicklung aus den letzten Spielen, es war immer wieder ein Schritt nach vorne. Im Prinzip war ja schon der Auftaktsieg gegen Ägypten eine kleine Reifeprüfung. So gesehen muss man sagen, dass wir uns von Klassenarbeit zu Klassenarbeit weiterentwickeln – und mit dem Erreichen der Zwischenrunde haben wir die Versetzung bereits geschafft.

Wie werten Sie die Niederlage gegen Serbien-Montenegro?

Sie war mit Sicherheit kein Rückschritt. Die Serben, wenn sie erst mal richtig zu Werke gehen, sind sicherlich einer der Top-Favoriten. Wir haben gegen sie viele Wellentäler durchlebt, aber auch Positives.

Was war das Positive an dieser Niederlage?

Dass wir beinahe einen Fünf-Tore-Rückstand aufgeholt hätten. Dazu sind die wenigsten Mannschaften in der Lage. Wir hätten es beinahe geschafft – und das ist eine wichtige Erkenntnis.

Gab es schon Phasen bei dieser WM, in denen Sie sich die alten Kameraden zurückgewünscht haben?

Im Spiel kommt das eigentlich nicht vor. Da ist man so sehr auf die eigene Aufgabe konzentriert, dass man für so etwas gar keinen Gedanken frei hat. Im Training aber gibt es schon Situationen, bei denen man schmunzeln muss, weil manche Dinge plötzlich wieder erklärt werden müssen, die vor kurzem noch selbstverständlich waren. Wobei das ganz normal ist, weil sich gewisse Dinge und Abläufe erst einprägen und automatisieren müssen.

Auch Sie spielen in der neu formierten Mannschaft eine neue, exponiertere Rolle. Es scheint, als bereite Ihnen das Amt des Mannschaftskapitäns viel Spaß.

Klar. Sonst hätte ich zu Heiner auch schon gesagt, dass er mich davon wieder befreien soll. Bisher habe ich damit aber kein Problem – und ein schlechtes Feedback von der Mannschaft habe ich auch noch nicht bekommen. Wobei ich keiner bin, der unbedingt jedes Mal das Wort haben muss und vorschreibt: Wir machen das so und so und so. Es gibt einfach Situationen, wo meine Meinung gefragt ist, und dann sage ich sie eben auch.

Wie würden Sie Ihre neue Rolle definieren?

Eine Mannschaft kann nicht funktionieren, wenn sie nicht über gewisse Hierarchien verfügt. Es muss in jeder Mannschaft ein paar Leader geben. Bei uns sind das Frank von Behren, Steffen Weber und ich. Wir haben auf dem Spielfeld ein bisschen das Sagen – und abseits eben auch. Bis jetzt hat das prima funktioniert.

In der alten Mannschaft standen eher andere Spieler im Mittelpunkt. Sie galten als ruhig und zurückhaltend. Inwieweit bietet die Kapitänsrolle da auch eine Chance zur persönlichen Weiterentwicklung?

Ich sehe das eher als eine Art Reifeprozess, der schon ein paar Jahre in Gang ist. Zuerst war ich Ergänzungsspieler, dann gesetzter Ersatzspieler, später Stammspieler, und jetzt habe ich vielleicht die Spitze erreicht und bin Kapitän. Ich hatte also genügend Gelegenheit, bei erfahrenen Leuten viele Dinge abzugucken. Da habe ich sicherlich viel gelernt, gerade was die Außendarstellung angeht.

Was macht den Reiz aus, bei einem Neuaufbau wie diesem mitzuwirken?

Dass man ein großer und wichtiger Teil ist von dem, was da neu erschaffen wird. Ich denke, wir haben 2007 eine gute Chance, um die Medaillen mitzuspielen. Für mich persönlich wird das neben den Olympischen Spielen voraussichtlich das Erlebnis meiner sportlichen Laufbahn sein.

Herr Kehrmann, nun zum weiteren WM-Verlauf. Früher hätten Sie und Ihre Kameraden an dieser Stelle wohl gesagt: So, Vorrunde ist zu Ende, jetzt geht das Turnier endlich richtig los. Diesmal ist das wohl anders.

Stimmt. Wir haben die Zwischenrunde erreicht – und genau das war unser Ziel. Alles, was jetzt kommt, ist die Kür.

Was darf da gegen so hochkarätige Gegner wie Schweden, Kroatien und Spanien erwartet werden?

Groß erwarten sollte man gar nichts. Ich denke aber, dass wir in der Lage sind, jeden großen Gegner zu ärgern. Und ich gehe davon aus, dass die anderen nach unseren Leistungen in der Vorrunde wieder Respekt vor uns haben, weil die sehen: Die haben zwar ein paar große Namen nicht mehr dabei, aber die können ja trotzdem Handball spielen.

Wen fürchten Sie am meisten?

Ich fürchte alle. Die können alle drei Weltmeister werden.