Der Tag nach Hoyzergate

Mit mulmigem Gefühl sitzt der Schiedsrichterbeobachter Hellmut Krug auf der Tribüne in Dortmund, kann seinen Block nach dem 1:1 zwischen dem BVB und Mönchengladbach aber beruhigt zuklappen

AUS DORTMUNDULRICH HESSE-LICHTENBERGER

Eine halbe Stunde lang schien alles so zu sein wie immer. Hellmut Krug, seit anderthalb Jahren Chef der Schiedsrichter-Abteilung des DFB, saß mit der leicht schelmischen Gelassenheit auf der Tribüne des Dortmunder Westfalenstadions, die ihn schon auszeichnete, als er noch selbst in kurzen Hosen herumlief. Jeden vierten oder fünften Pfiff von Wolfgang Stark, der unten auf dem Rasen die Partie zwischen dem heimischen BVB und der Borussia aus Mönchengladbach leitete, hielt er auf einem Notizblock mit der exakten Uhrzeit fest, damit jene Momente bei der Nachbesprechung schneller auf dem Videoband gefunden werden konnten. „Die Aufnahmen haben einen Timecode“, erklärte er seinem Nachbarn mit einem freundlichen Lächeln. Diese Arbeit verrichtet Krug an jedem Wochenende. Es war also ein scheinbar normaler Tag.

Bis um Punkt 16 Uhr. In dieser Minute stürzten sich Gladbachs Brasilianer Marcello Pletsch und sein schwarz-gelber Landsmann Evanilson einem Ball entgegen, den –so liegen die Dinge im Fußball – nur einer von ihnen bekommen konnte. Nach der unvermeidlichen Kollision stürzten beide Profis zu Boden, warfen beide Trainer die Arme in die Luft, schrieen beide Fanblöcke empört auf. Dann richteten sich etwa 80.000 Augenpaare auf Wolfgang Stark. Der entschied auf Freistoß für Dortmund – und Hellmut Krug erschrak.

„Ich hatte es im Gefühl, dass jetzt ein Tor fallen würde“, sagte er später. „Das passiert oft nach so blöden Szenen.“ Aber als Dede den Freistoß ausführte und Jan Koller ihn zum 1:0 ins Netz köpfte, durfte Krug das schon wieder in aller Ruhe betrachten. Auf einem Monitor, der zufällig in der Nähe stand, hatte er gesehen, dass Stark richtig lag: Evanilson war einen Lidschlag vor Pletsch an das Leder gekommen.

Diese Gewissheit hatte man im Lager der Gäste da noch nicht. „Schieber, Schieber!“, riefen die Gladbacher Fans, während Trainer Dick Advocaat drei Finger in Richtung des Schiedsrichters hochhielt. „Es war das dritte oder vierte Mal, dass er ohne Grund gegen uns gepfiffen hatte“, führte er später im Kabinentrakt aus. „Meiner Meinung nach hatte Pletsch den Ball gespielt, nicht den Mann.“

Solche Diskussionen pflastern jeden Spieltag der Bundesliga und aller anderen Klassen, aber der vom Samstag war nun einmal der erste nach Hoyzergate. Zu allem Überfluss war es in Dortmund auch noch ein (seit langem geplanter) „Oddset-Day“, sodass die Fans beim Betreten der Tribünen ein riesiges Werbeplakat des Wettanbieters auf dem Rasen liegen sahen. Ja, im Schatten des Referee-Skandals bekam selbst das traditionelle Tippspiel unter den Journalisten eine neue Dimension, denn im Presseraum des Westfalenstadions trug sich kaum ein professioneller Beobachter in die Liste mit den Vorhersagen ein. Man musste an diesem Samstag sehr vorsichtig sein.

Starks Pfiff gegen Pletsch hätte also unangenehmes Gerede nach sich ziehen können, wenn dem Referee nicht die Spieler zu Hilfe gekommen wären. In der ersten Hälfte dominierte der BVB gegen verhuschte Gladbacher die Partie so sehr, dass das 1:0 vielleicht umstritten, dafür aber hochverdient war.

Aber schon kurz fiel das 1:1, und das Bild war nun ein völlig anderes. „Sind die Dortmunder jetzt so viel schlechter geworden oder die Gladbacher so viel besser?“, konnte Krug in der Schlussphase launig fragen, als allen klar war, dass das Ganze auf ein angemessenes Unentschieden hinauslaufen würde, an dem es nichts zu kritteln gab.

„Es war ein richtiges Ergebnis“, sagte dann auch Advocaat trotz seines leichten Grimms auf den Spielleiter Stark. „Es ist ein gerechtes Unentschieden“, kam prompt das Echo von Dortmunds Trainer Bert van Marwijk. Und auch die Stellungnahmen anderer Beteiligter hätte man problemlos austauschen können. Otto Addo, der zum ersten Mal seit 16 Monaten wieder für den BVB spielen konnte, schimpfte: „Es war mehr drin.“ Gladbachs Neuville klagte: „Uns hat das zweite Tor gefehlt.“

So endete der Nachmittag also zur vollsten Zufriedenheit, zumindest für Hellmut Krug. Sogar den Pressetipp gewann jemand aus der Tschechischen Republik, um auch nicht den Hauch eines Verdachts auf Deutsche zu werfen, die vom Fußball leben.

Borussia Dortmund: Weidenfeller - Evanilson, Bergdölmo, Wörns, Dede - Kehl - Kruska, Kringe - Smolarek, Koller, Ricken (67. Addo)Borussia Mönchengladbach: Keller - Fukal, Moore, Pletsch, Daems (58.Jansen) - Kluge, Thijs, Böhme - Sonck (83. Broich), Sverkos, Neuville Schiedsrichter: Stark (Ergolding)Zuschauer: 79.500; Tore: 1:0 Koller (29.), 1:1 Kluge (49.)