ausgehen und rumstehen
: Gemütlich verloren sein: Galerie Berlin-Changchun

Falsch verstandene Coolness hat den Zeitpunkt, von dem an man in den Bars unserer Stadt mit netter Gesellschaft rechnen kann, immer weiter nach hinten verschoben. Deshalb beginnt diese Kolumne, jedenfalls wenn ich sie schreibe, so häufig mit TV-Impressionen.

Zum Beispiel dieser hier: Das erste Mal seit ihrem Relaunch vor ein paar Jahren sehe ich bewusst die „neuen“ Mainzelmännchen. Ihr schlechteres Aussehen wird durch die besseren Geschichten wettgemacht. Ein Dreisekunder, in dem ein Mainzelmännchen mit seinem Laptop Waffeln backt, bringt mich sogar so gut drauf, dass ich danach wieder bei Karnevalssitzungen im WDR Hass tanken muss – Hass auf die Stadt, in der ich so lange wohnte und die ich morgen mal wieder besuche.

Am niederschmetterndsten ist ein Zusammenschnitt der beliebtesten Nummern von „Et Tüsnellsche“. Als einziger Frau im Kölner Karneval ist ihr einziges Thema ihre eigene Hässlichkeit. Das ist selbst im engen, Dummheit und Reaktion gebietenden Rahmen des rheinischen Frohsinns noch ziemlich weit unten. In irgendeinem Alexander-Kluge-Interview, das vermutlich auch im Fernsehen lief, kam mal das Beispiel von einem Frosch vor, der in einem Topf voll Wasser sitzt, das so langsam erwärmt wird, dass der Frosch nie eine Veränderung seiner Lage empfindet, bis er irgendwann durch die Hitze umkommt. Dies, so Kluge, sei kein tragischer Vorgang, sondern ein epischer. „Et Tüsnellsche“ ist auch ein epischer Vorgang“, denke ich mir und geh mal endlich.

„In der Kastanienallee neben dem Inder musst du bei ‚Rechtsanwälte‘ klingeln, dann in den dritten Stock gehen und zu dem Typen, der dir aufmacht, sagen: ‚Ich hab ein knallrotes Gummiboot.‘ “ Das Letzte mit dem Gummiboot war von meinem Freund natürlich bloß ausgedacht, damit ich mich vor dem Chef des Geheimclubs blamiere, aber ich bin ja nicht bescheuert.

Der Club selbst ist offiziell eine Galerie. Sie stellt die Bilder jener unbekannten Person aus, die schon die Hälfte aller Hauswände in Mitte bemalt hat und bei deren popartigen Figuren der Kopf meist aussieht wie zwei übereinander gelegte Gummibänder. Der Clubbetreiber ist wohl Fan und hat, wann immer er eine solche Figur auf einem rumliegenden Brett oder sonst einem transportablen Gegenstand entdeckte, diesen eingesammelt und hier aufgehängt.

Ich mache eine Umfrage unter den Gästen. Jeder soll raten, ob die Bilder von einem Mann oder von einer Frau sind. Alle meinen was anderes und kommen miteinander in ausgelassene Gespräche. Flüchtige Freundschaften werden geknüpft, die sich später noch bei der gemeinsamen Jackensuche in einem schrotthaldengroßen Kleiderberg vertiefen lassen.

Dabei lerne ich eine Frau aus Rom kennen, die in Berlin, wie sich herausstellt, mit dem einzigen Menschen, den ich sonst noch aus Rom kenne, zusammenwohnt. Eine andere, viel gereist, erzählt aus China: „In Changchun leben sieben Millionen Menschen, aber es gibt dort nichts außer Wohnhäusern und Lebensmittelgeschäften. Ich habe mit Schülern gesprochen, die mir erzählten, sie haben jeden Tag von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends Schule. Ich meinte: ‚Was macht ihr abends, wenn ihr frei habt?‘ Sie guckten mich verständnislos an und sagten: ‚Hausaufgaben.‘ “

Das mit Rom und China so dicht hintereinander ist etwas viel für mich. Ist die Welt jetzt groß oder klein? Soll ich mich auf eine unheimliche Weise geborgen fühlen oder auf eine gemütliche Weise verloren? Die Idee, ich wäre als Austauschschüler in Changchun, ergreift von mir Besitz. Ich sinke zwischen fremde Jacken und bleibe liegen, bis man mich findet. JENS FRIEBE