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Die Grünen haben nicht die glorreiche Vergangenheit der FDP, aber ihnen blüht dieselbe Zukunft: in einer bequemen Nische Mehrheitsbeschafferin der Volksparteien zu sein

Ökologische Fragen sind – trotz aller Dringlichkeit – ein Minderheitenthema geblieben

Was manche befürchtet und andere erhofft hatten, ist nicht eingetreten. 25 Jahre nach Gründung der Grünen steht fest: Sie sind kein Generationenprojekt geblieben. Beim Nachwuchs und sogar bei Teilen des Spitzenpersonals der Gegenwart ist die Distanz zum Lebensgefühl der Gründerjahre mindestens ebenso groß wie zu manchen der politischen Anliegen von damals. In dieser Hinsicht spiegelt die Entwicklung der Partei das Alltagsleben der Bevölkerung wider. Und ist somit im politischen und gesellschaftlichen Spektrum selbst in dieser Hinsicht keine Ausnahmeerscheinung mehr.

Wer auftritt wie die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt oder wie der Staatssekretär Matthias Berninger wäre in den 80er-Jahren instinktiv als Teil des rivalisierenden Lagers identifiziert worden – noch bevor sie oder er den Mund aufgemacht hätten. Otto Schily war als Grüner ein weißer Rabe, der mit seinem konservativen Auftreten mindestens ebenso sehr provozierte wie mit seinen inhaltlichen Äußerungen, Parteifreunde ebenso wie Gegner. Heute taugt gerade ein Image, das dem herkömmlichen Klischee nicht entspricht, als Nachweis dafür, dass eine Partei lernfähig ist und weit weniger starr, als ihr gemeinhin unterstellt wird. Auch darin unterscheiden sich die Grünen nicht von der politischen Konkurrenz.

Haben wir nicht irgendwo noch einen Schwulen, einen Immigranten oder eine beruflich erfolgreiche Mutter, die wir den Medien vorstellen können? Mit dieser Frage scheint die CDU derzeit der Mediengesellschaft ihren Tribut zu zollen. Die SPD hat schon immer gerne die – wenigen – prominenten Unternehmer in den eigenen Reihen vermarktet. Mit der wachsenden, prononcierten Distanz zum vermeintlich homogenen Erscheinungsbild der politischen Mitstreiter befinden sich die Grünen auch in dieser Hinsicht in guter Gesellschaft.

Eine normale Partei also. Seit einigen Jahren ist über sie nicht einmal mehr zu lesen, sie sei „erwachsen“ geworden. Was unter anderem damit zu tun haben mag, dass manche der Leitartikler inzwischen gut 20 Jahre jünger sind als die grünen Minister, über die sie schreiben. Da lässt sich ein so alberner Satz irgendwann doch nicht mehr so leicht formulieren.

Der Falle des Generationenprojekts sind die Grünen also entronnen. Stattdessen sind sie das geworden, was die andere etablierte Kleinpartei des bundesdeutschen Spektrums – die FDP – schon seit Jahrzehnten ist: eine Funktionspartei. Beider Aufgabe besteht darin, einer der beiden so genannten Volksparteien, wenn denn irgend möglich, die Mehrheit zu sichern. Einer der beiden, keineswegs nur der SPD.

So unrealistisch eine schwarz-grüne Koalition auf Bundesebene derzeit auch sein mag: Die Bedeutung einer Funktionspartei bemisst sich nicht nur am konkret Erwartbaren, sondern auch an politischen Fantasien. Wäre es anders, dann wären alle Spekulationen über mögliche rot-rot-grüne Koalitionen oder Ampelkonstellationen von vornherein vollkommen unsinnig. Das sind sie aber nicht, sondern sie beeinflussen dadurch, dass es sie gibt, bereits die Richtung des politischen Diskurses. Mit den Grünen (und der CDU) verbinden sich derzeit einige ziemlich abenteuerliche Fantasien. Im Blick auf Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg beispielsweise.

Eine Funktionspartei hat in der Bundesrepublik eine relativ bequeme Existenz. Wer sie wählt, delegiert. Und spricht somit die Erwartung aus, dass die von ihm favorisierten Mandatsträger grundsätzlich das eigene politische Koordinatensystem teilen. Im Zweifel also die Entscheidungen durchzusetzen versuchen, für die man auch selbst gestritten hätte – hätte man nur die Möglichkeit, sich intensiv genug in das jeweilige Thema einzuarbeiten.

Eine kleine Funktionspartei kann sich stets darauf zurückziehen, dass ihr Einfluss eben – leider, leider – nicht groß genug sei. Dieser Ausweg steht den großen Parteien nicht zur Verfügung. Weshalb sie sehr viel mehr Grund haben, enttäuschte Wechselwähler zu fürchten, als ihre jeweiligen kleineren Verbündeten. Keine andere Partei, nicht einmal die grüne, hat je einen so grundlegenden Positionswechsel vorgenommen wie die FDP. Deren Vertreter von 1969 haben mit denen von 2002 sehr wenig gemeinsam. Die bundesweiten Wahlergebnisse unterscheiden sich jedoch so dramatisch nicht voneinander. Und dafür gibt es Gründe.

Viele Wählerinnen und Wähler von Funktionsparteien wünschen gar nicht, dass die von ihnen favorisierte Partei ihr Programm tatsächlich vollständig durchsetzen kann. Sie sehen ihre Partei vielmehr als Korrektiv der bestehenden Machtverhältnisse. Die FDP sollte lange einfach verhindern, dass die jeweilige Regierung unkontrolliert Akzente nach rechts – oder links – setzen konnte. Sie wurde und wird als Zünglein an der Waage der jeweiligen vermuteten gesellschaftlichen Mehrheit gesehen. Daran können selbst die Schuhsohlen des Vorsitzenden Guido Westerwelle mit der aufgedruckten Zahl 18 – einem abstrusen Wahlziel – nichts ändern.

Der Falle des Generationenprojekts sind die Grünen also noch einmal entronnen

Das kann man zu Recht als Niedergang einer einstmals so großen Bewegung wie der des Liberalismus im 18. und 19. Jahrhundert sehen. Man kann es aber auch als politische Lebensversicherung betrachten. Die Grünen sind – als Bewegung, nicht als Partei – so groß nie geworden, wie die Vorläufer der FDP es einst gewesen waren. Hat sie das auch vor der Demütigung eines Absturzes bewahrt, der öffentlich als solcher wahrgenommen worden wäre? Anders gefragt: Hätten die Grünen auch etwas anderes werden können als eine Funktionspartei? Ist eine andere Rolle innerhalb des komplexen Systems der Bundesrepublik, das sich zwischen Verhältniswahlrecht und Föderalismus bewegt, überhaupt vorstellbar?

Die Tatsache, dass sich die Grünen überhaupt als Partei langfristig etablieren konnten, lässt sich darauf zurückführen, dass sie einen neuen Gegenstand auf die Agenda zu setzen vermochten: nämlich den der Ökologie. Darin lag eine Chance, darin ist aber auch das Scheitern schon begründet. Ökologische Fragen betreffen zwar alle, aber man muss über eine ökonomisch gesicherte, friedliche Existenz verfügen, um sie ernst nehmen zu können. Der scharfe Blick auf die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen konnte sich nicht zufällig erst in der wohlhabenden, postindustriellen Gesellschaft als wesentliches Thema entfalten.

Deshalb sind ökologische Fragen – aller unleugbaren Dringlichkeit zum Trotz – ein Minderheitenthema geblieben. Geeignet eben als Korrektiv, nicht als politisches Programm. All das, was die Grünen bei ihrer Gründung sonst noch wollten, ist ohnehin am Zeitgeist gestrandet: eine antimilitaristische Politik, die Absage an jede Form der Diskriminierung, die kompromisslose Reverenz an die Bürgerrechte. Nur als Ökopartei könnten die Grünen sich unabhängig machen von der Rolle einer Funktionspartei. Sie haben sich anders entschieden. BETTINA GAUS