Es ist zu warm in dieser polyfonen Stadt

NEW YORK, NEW YORK: Wie man die Welt rettet, indem man mit einer Frau schläft – John Wray erzählt es

Lowboy ist der Einzige, der die Katastrophe verhindern kann – denn die Welt ist in ihm

VON CHRISTIAN WERTHSCHULTE

Vielleicht darf es in Büchern über New York einfach keine unschuldige Jugend geben. Egal ob Holden Caulfield bei seinen Streifzügen durch Manhattan schmerzhaft die Verlogenheit der Welt erfährt oder der kleine Oskar aus Jonathan Safran Foers Roman „Extrem laut und unglaublich nah“ die Stadt durchwandern muss, um ihre Vielheit als Trost für den Verlust seines Vaters bei den Anschlägen des 11. September zu erfahren: New York ist immer zur Stelle, wenn Amerikas Jüngste eine Kulisse benötigen, vor der sie die Befindlichkeiten einer Nation oder Generation auf ihren schmalen Schultern tragen müssen. Auch der 16-jährige William Heller in John Wrays Roman „Der Retter der Welt“ ist ein Getriebener der Stadt, doch seine Last hat er sich selbst auferlegt. „Um ihn herum Zeichen, nichts war ohne Bedeutung“, geht ihm durch den Kopf, als er in das Labyrinth aus Helvetica-Buchstaben hinabsteigt, die sein Zuhause sein werden: die New Yorker U-Bahn.

Hier muss er seine Mission erfüllen. William ist davon überzeugt, dass sich die Welt geradewegs auf den Punkt zubewegt, an dem sie zu warm geworden ist und endgültig untergehen wird. Und er ist der Einzige, der die Katastrophe verhindern kann, schließlich ist die Welt in ihm. So hat er es zumindest in einem Artikel über Buddhismus in der National Geographic gelesen. Um sich und der Welt die notwendige Abkühlung zu verschaffen, muss er eine Aufgabe erfüllen, die seinen Gefühlshaushalt vollkommen überfordert: Er muss mit einem Mädchen schlafen.

Klar, William, der „wegen meiner Krankheit und wegen der Züge“ Lowboy genannt wird, ist ein besonderer Jugendlicher. Und das nicht, weil er die Welt retten muss. Wegen seiner paranoiden Schizophrenie hat er die vergangenen 18 Monate in einer geschlossenen Anstalt verbracht, damit sich die Ereignisse von jenem Tag am Union Square nicht wiederholen. Dort stieß er seine Freundin Emily auf die U-Bahn-Gleise. Nicht wegen eines Streits oder aus Eifersucht, sondern weil sie ihn umarmen wollte und er sich von ihr losgerissen hat. Nun ist er einen Tag vor seiner Entlassung aus der Anstalt geflohen und sucht ausgerechnet Emily auf, damit sie ihm bei der Weltrettung zur Seite steht. Und während sich die beiden Helden durch die Unterwelt der U-Bahn schlagen, bietet Lowboys Mutter Yda alle Tricks auf, um den Profiler Ali Lateef von der Fährte ihres Sohns wegzulocken und ihr eigenes Familiendrama vor ihm geheim zu halten.

Während dieser Verfolgungsjagd bietet John Wray – 1971 geboren, in den USA längst hoch gehandelt – alle Facetten eines New-York-Romans. Der Rhythmus ist schnell, die Szenenwechsel sind abrupt, fast so als könnte sich auf der Flucht durch New York an jeder Haltestelle eine andere Welt auftun. Und dennoch bleibt die Stadt abseits der U-Bahn-Netzes unkenntlich abstrakt, ein Reservoir beliebig austauschbarer Boutiquen, in denen Emily ihren Lowboy in die gleichen engen Jeans zwängt, wie es Teenagermädchen mit ihren Freunden in jedem Einkaufszentrum der westlichen Welt tun.

Was man ohne Probleme als Lamento über die Gentrifizierung New Yorks hin zu einer Allerweltsstadt begreifen könnte, erweist sich aber als erzählerischer Kniff, der statt der Kulisse der Großstadt die lockere Weltsicht der Figuren in den Fokus nimmt. Die Vierecksgeschichte im Herzen des Romans wird dadurch vorangetrieben, dass alle Charaktere ihre Ziele hakenschlagend zielstrebig verfolgen. Lowboy ist nicht nur Spielball seiner Hirnchemie, sondern auch von Emily, deren Mittelklasseexistenz durch den Jungen mit den seltsamen Fantasien von einer auf dem Kopf stehenden Stadt inmitten des Hudson River den nötigen Thrill verliehen bekommt. Und Detective Lateef lässt sich nur zu gerne von Ydas Verführungen in den Bann ziehen, um seine Routine als Anagramme lösender Stubenpolizist aufzubrechen. Kein Charakter hat das Zeug zum Helden, ja nicht einmal zur Projektionsfläche, um jemandem die Verantwortung dafür zu geben, dass am Ende des Textes einige Puzzlestücke nicht so recht passen wollen.

John Wray breitet eine Reihe von Sinnangeboten aus, denunziert sie aber gleichzeitig als die Kopfgeburten von vier Charakteren, die sich in den eigenen Widersprüchen verfangen haben. Eine Geste, deren Tragweite erst sichtbar wird, wenn man sie vor dem Hintergrund anderer Romane aus den Schreibstuben junger Ostküstenschriftsteller über ihre Metropole sieht, in denen die Polyfonie New Yorks unter der welterklärenden Stimme des Erzählers erdrückt wird. John Wray dagegen gestattet sich den Luxus, ein Lob der losen Enden geschrieben zu haben, eine Hymne auf das Stimmengewirr als Normalzustand. Selbst wenn dafür am Ende die Welt in einem engen U-Bahn-Schacht verglühen muss.

■ John Wray: „Retter der Welt“. Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Rowohlt, Reinbek 2009, 348 Seiten, 19,90 Euro