Rätselhafter Wimbledon

GRAPHIC NOVEL Seth’ alias Gregory Gallants sensibler Comic

■ Seth ist das Pseudonym von Gregory Gallant, geb. 1962 in South Ontario, Kanada. Zusammen mit Chester Brown und Guy Delisle gehört er zu den international renommierten Comic-Künstlern seines Landes. Er ist auch als Illustrator und Book Desig- ner tätig, u. a. für „Peanuts“ (Deutsch bei Carlsen).

VON CHRISTOPH HAAS

Seth liebt die Käuze, die Träumer und Loser. Die Bilder, in denen er ihre Schicksale schildert, sind von einer makellosen Retro-Eleganz. In „It’s A Good Life If You Don’t Weaken“ versucht ein junger Mann mit manischem Eifer alles über einen US-amerikanischen Cartoonisten der Vierziger- und Fünfzigerjahre herauszukriegen. Und auch „Wimbledon Green“, die jüngste Graphic Novel des kanadischen Künstlers, führt in das Biotop des fanatischen Comicsammlers.

Harmlos und gefürchtet

Die Titelfigur, ein ältlicher Herr mit weißem Schnurrbart, trägt eine dicke Brille und ein komisches, viel zu kleines Hütchen. Wimbledon Green wirkt exzentrisch, harmlos – und ist doch gefürchtet im Kreis jener Männer, die sich für antiquarische Comic Books interessieren. Denn der Spürsinn Wimbledons wird noch übertroffen von seinen unerschöpflichen finanziellen Ressourcen, die ihn auf jeder Auktion triumphieren lassen. Seine Fähigkeiten grenzen ans Mirakulöse: An den Heftklammern kann er Erscheinungsjahre bestimmen, und „den schalen Duft alter Drucksachen“ kann er aus der Ferne bestimmen.

„Wimbledon Green“ ist keine linear erzählte Geschichte. In sehr amüsanter Weise wird stattdessen heterogenes Material akkumuliert. Händler und Sammler treten auf und erzählen ihre Anekdoten, ein vom Dokumentarfilm übernommenes Verfahren. Wimbledon selber agiert in einer fantastischen Welt, hat Züge der von ihm so geliebten Comics des Golden und Silver Age: Er wohnt in einem herrschaftlichen Haus, „Tempel des Druckwerks“, besitzt einen indischen Diener und steigt zur Comicjagd in einen futuristischen Helikopter.

„Wimbledon Green“ geht auf Kritzeleien im Skizzenbuch zurück, die zunächst nicht für die Publikation bestimmt waren. Die Spuren dieses Anfangs sind nicht getilgt, sondern bewahrt geblieben. Der Strich ist lockerer, reduzierter als in den früheren Arbeiten, und die Panels haben überwiegend ein sehr kleines Format; bis zu 20 von ihnen passen auf eine Seite.

Hintergründe fehlen oder sind nur sehr sparsam ausgeführt. Die nostalgische Detailfreudigkeit, mit der Seth sonst gerne Architektur, Mobiliar und Konsumgüter der Zwischen- und Nachkriegszeit verewigt, ist in „Wimbledon Green“ absent. Oft gibt es nicht mehr als Köpfe und Oberkörper zu sehen. Dass die Lektüre dennoch ein einziges Vergnügen ist, liegt am karikaturistisch-humoristischen Talent des Zeichners.

In „It’s A Good Life“ hat der Leser lange den Eindruck, einen autobiografischen Comic in den Händen zu halten. Erst am Ende wird klar, dass es sich durchweg um Fiktion handelt. Im vorliegenden Fall ist es umgekehrt: Hier dringen ins Erfundene schließlich autobiografische Momente ein.

Wenn Wimbledon im letzten Kapitel, allein unterwegs in einer nächtlichen, menschenleeren Stadt, Kindheits- und Jugenderinnerungen wachruft und über den Tod seiner Mutter sinniert, dann ist durch einen Hinweis im Vorwort klar, dass der Autor hier kaum verstellt von sich spricht. Das ist bewegend – umso mehr, als es einen plötzlichen, unvermuteten Wechsel der Tonlage bedeutet. In seinem Willen zur Stilisierung, der auch die eigene, stets perfekt gekleidete Person umfasst, hat Seth etwas von einem Dandy. Aber eines ungewöhnlichen mit Herz.

■ Seth: „Wimbledon Green. Der größte Comicsammler der Welt“. Aus dem amerikanischen Englisch von Kai Wilksen und Uli Pröfrock. Edition 52, Wuppertal 2009, 128 Seiten, 25 €