Null Bock auf Demokratie

EUROPAWAHL Die Beteiligung an der Europawahl war bis zum Nachmittag deutlich niedriger als vor fünf Jahren. Das schlechte Wetter allein kann daran nicht schuld sein

„Es gibt doch Schirme“

EIN ZEHLENDORFER ZEIGT WENIG VERSTÄNDNIS FÜR DIE GERINGE WAHLBETEILIGUNG

VON STEFAN ALBERTI
, SEBASTIAN HEISER
UND KRISTINA PEZZEI

Der Regen war nur bis zum Mittag eine willkommene Entschuldigung, danach griff die allgemeine Wahlmüdigkeit: Nach einer ersten Hochrechnung gaben in Berlin nur 33 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, über 5 Prozentpunkte weniger als bei der Europawahl vor vier Jahren. Insgesamt lag die Beteiligung 2004 bei 38,6 Prozent.

Am pflichtbewusstesten waren noch die Steglitz-Zehlendorfer. 33,3 Prozent der Berechtigten waren dort bis 16 Uhr zur Wahl gegangen – für den Bezirk indes ist das immer noch ungewöhnlich wenig. Bei einem Wähler fand die niedrige Beteiligung trotz des Regenwetters wenig Verständnis. „Es gibt doch Schirme“, sagte der 40-Jährige vor der Schweizerhof-Grundschule. Eine Wahlhelferin bestätigte gegen 13 Uhr, beim Volksentscheid zu „Pro Reli“ Ende April hätten zur gleichen Zeit weit über 40 Prozent abgestimmt – diesmal sei es kaum jeder Zehnte gewesen.

Als der Regen nachließ, belebten sich die Räume zumindest etwas. In einem Kreuzberger Wahllokal bildete sich gar eine kleine Schlange vor dem Eingang in den Klassenraum. Fünf Leute kamen gleichzeitig, die ersten beiden brauchten besonders lange in der Wahlkabine. „Ein sehr großes Papier“, sagte der 48-jährige Visam Degirmenci entschuldigend. Da habe er erst einmal etwas suchen müssen. Wirklich wichtig fand er die Wahl nicht – aber der Gang zum Stimmkasten gehöre nun einmal dazu in einer Demokratie. Andere hatten überhaupt Schwierigkeiten, ihren Abstimmungsort zu finden – wegen der zu erwartenden geringen Beteiligung waren Wahllokale zusammengelegt worden, es wurden weniger Auszähler benötigt.

In Marzahn-Hellersdorf fanden zunächst ohnehin nur 18,3 Prozent den Weg zur Urne – die niedrigste Beteiligung landesweit. In Schöneberg und Tempelhof waren die Lokale da voller, immerhin war die Europawahl mit einem lokalen Entscheid verbunden: Die Berechtigten sollten auch darüber abstimmen, ob das Gelände des Exflughafens Tempelhof Unesco-Welterbe werden soll. Für das Erreichen des Quorums standen die Chancen gut. Wer über das Europaparlament abstimmte, machte in der Regel auch beim Bürgerentscheid sein Kreuz. 15 Prozent der Berechtigten müssen teilnehmen, damit der Entscheid gewertet wird.

Inhaltlich allerdings teilten sich die Meinungen. „Natürlich habe ich mit Nein gestimmt“, sagte ein Mann im Rathaus Schöneberg, der mit seiner Tochter gekommen war. „Ist doch völliger Schwachsinn.“ Die Rentnerin Dagmar O. hingegen stimmte mit Ja. „Wir verbinden so viel Persönliches mit diesem Flughafen“, sagte sie. Dass die Forderung des Entscheids realistisch ist, bezweifelte sie indes. „Wir versuchen es zumindest.“ In der Havelland-Grundschule an der Kolonnenstraße stimmte eine Erstwählerin ebenfalls mit Ja. „Ich will nicht, dass irgendein Gebäude auf dem Gelände neu gebaut werden darf“, begründete die 16-Jährige ihre Entscheidung. „Das soll alles so bleiben, wie es ist.“