Kein Vergleich, keine Panik

Fünf Millionen Deutsche sind arbeitslos – wackelt jetzt die Bundesrepublik? Ist, ähnlich wie zum Ende der Weimarer Republik, die Demokratie in Gefahr? Das denken nur Hobby-Historiker

VON RALPH BOLLMANN

Die Zahl beeindruckt, keine Frage. Fünf Millionen Arbeitslose – das hat es in Deuschland, seit der moderne Begriff von Erwerbstätigkeit eingeführt ist, nur ein einziges Mal gegeben: auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise in den Jahren zwischen 1930 und 1933. Der Subtext, der in der gegenwärtigen Debatte ständig mitschwingt, lautet also: Haben wir nicht längst Weimarer Verhältnisse? Und, darüber hinaus: Sitzt nicht schon wieder die NPD in einem Landesparlament?

Während auf der politischen Ebene wortreich versichert wird, Dresden sei nicht Weimar, bleibt die Gleichsetzung der Arbeitslosen meist unwidersprochen. Dabei gilt auch für den historischen Vergleich mit Weimar, was die Fünf-Millionen-Debatte schon in der Gegenwart so unergiebig macht: Es gibt schlichtweg keine nackte Zahl, die über das wahre Ausmaß von Arbeitslosigkeit wirklich etwas aussagt. Selbst der Vorwurf, alle Regierungen pflegten die Statistik nach Belieben zu „fälschen“, trifft die Wahrheit bestenfalls zur Hälfte. Die Arbeitslosenquote bleibt, wie man sie auch dreht und wendet, eine politische Zahl.

So unterschlagen die Hobby-Historiker dieser Tage gerne, dass Deutschland vor 70 Jahren rund 20 Millionen Einwohner weniger zählte als heute. Obendrein gingen weit weniger Frauen einer bezahlten Arbeit nach als heute. Und schließlich waren noch mehr Menschen im ländlich-agrarischen Milieu gebunden. Von der Arbeitslosigkeit betroffen waren also in erster Linie die männlichen Vertreter des städtischen Arbeiter- und Angestelltenmilieus – eine vergleichsweise kleine Gruppe, bei der die Höchstzahl von 6,1 Millionen Arbeitslosen im Februar 1932 katastrophale Auswirkungen hatte. In manchen Städten und Branchen waren zwei Drittel aller Erwerbspersonen ohne Arbeit.

Ohne Arbeit – das bedeutete damals keineswegs Arbeitslosengeld II, sondern Hunger im wörtlichen Sinn. Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung, erst 1927 eingeführt, wurden unter dem Eindruck der Krise immer weiter reduziert. Ohnehin wurde die Unterstützung nur ein halbes Jahr lang bezahlt, danach waren die Bedürftigen auf die Armenfürsorge verwiesen. Lange Schlangen vor den Suppenküchen gehörten zum Alltagsbild der deutschen Städte.

Anders als bei der strukturellen Arbeitslosigkeit in der heutigen Wohlstandsgesellschaft handelte es sich bei der Weltwirtschaftskrise eben um eine wirkliche Krise. Während die bundesdeutsche Ökonomie heute – wenn auch auf bescheidenem Niveau – weiter wächst, waren zu Beginn der Dreißigerjahre krasse Rückgänge der Wirtschaftsleistung zu verzeichnen. Die Auslastung der Kapazitäten in der industriellen Produktion betrug auf dem Tiefpunkt der Krise nur noch 45 Prozent, die Wirtschaftsleistung des Deuschen Reichs fiel auf den Stand des Jahres 1904 zurück.

Auch war die berüchtigte Deflationspolitik des Reichskanzlers Heinrich Brüning keineswegs mit den vergeblichen und mittlerweile aufgegebenen Sparversuchen des heutigen Finanzministers Hans Eichel zu vergleichen. Während Eichel selbst mit dem Vorhaben gescheitert ist, auch nur den Anstieg der Bundesausgaben einigermaßen zu begrenzen, setzte Brüning tatsächlich durchgreifende Kürzungen im Etat des Reiches durch. Selbst die scheinbar unantastbaren Bezüge der Beamten reduzierte er kurzerhand um volle 25 Prozent.

Der Beginn der Weltwirtschaftskrise mit dem Börsenkrach von 1929 ereilte die Deutschen eben nicht nach einer jahrzehntelangen Phase des wirtschaftlichen Wohlstands, sondern als neuerlicher Rückschlag in einer schier endlosen Kette von Katastrophen, die durch die kurze Aufschwungphase in der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre nur kurz unterbrochen war. Insbesondere hatte die Hyperinflation 1923 die privaten Sparvermögen aufgezehrt, von denen wenigstens ein Teil der Arbeitslosen während der Krise sonst möglicherweise hätte leben können.

Heute dagegen kann von einer akuten Krise gar keine Rede sein. Die scheinbar so erschreckende Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen, durch einen rein statistischen Effekt zustande gekommen, erinnert lediglich an einen Dauerzustand, der in Deutschland seit Jahrzehnten andauert und durch die Wiedervereinigung lediglich verschärft wurde: Zunehmende Rationalisierung und weltweite Arbeitsteilung führen zu einer rückläufigen Nachfrage nach Arbeitskraft, während das Angebot durch die Teilhabe immer weiterer Bevölkerungskreise, insbesondere der Frauen und zuletzt der Ostdeutschen, ständig steigt. Mit Weimarer Verhältnissen aber hat das nichts zu tun.