Tod in Istanbuler Polizeihaft

Türkische Polizei spricht von Selbstmord eines 21-jährigen Häftlings. Dessen Vater vermutet Misshandlungen als Ursache. Ermittlungen gegen drei Polizeibeamte

ISTANBUL taz ■ Ein mysteriöser Tod in Polizeihaft im Istanbuler Stadtteil Bakirköy sorgt derzeit für Aufsehen in der türkischen Öffentlichkeit. Es geht um einen 21-jährigen angeblichen Straßenräuber, der Ende vorletzter Woche tot in einer Zelle auf der Polizeistation aufgefunden wurde. Während die Polizei behauptet, der Untersuchungshäftling Gökhan Bergüzar habe sich in seiner Zelle erhängt, sagt sein Vater, sein Sohn sei infolge schwerer Misshandlungen gestorben. Die Leiche, die am Montag vergangener Woche beerdigt wurde, habe deutliche Zeichen von Gewaltanwendung aufgewiesen.

In der Öffentlichkeit wird der Fall heftig diskutiert, weil er nach einer längeren Zeit ohne Todesnachrichten aus Istanbuler Polizeiwachen wieder schlechte Erinnerungen weckt. Zufällig war zum Zeitpunkt des Todes des jungen Mannes die Videoüberwachung in den Zellen ausgeschaltet. Merkwürdigerweise ist der Haken, an dem der 1,80 Meter große Häftling sich erhängt haben soll, nur einen knappen Meter über dem Zellenboden. Eine weitere Merkwürdigkeit: nur wenige Stunden vor seinem angeblichen Freitod hatte sein Vater ihn besucht und keine psychische Auffälligkeit bemerkt.

Gegen drei Polizisten wird ermittelt. Allerdings präsentierte die Polizei gleich einen Obduktionsbericht, in dem Misshandlungen oder gar Folter nicht erwähnt werden. Menschenrechtsgruppen beklagen jedoch, dass Obduktionsberichte von der Polizei häufig vorfabriziert werden und willfährige Gefängnisärzte nur noch unterschreiben.

Der Fall Bergüzar zeigt auch, dass Misshandlungen oder Folter kaum noch etwas mit politischer Verfolgung zu tun haben, sondern längst ein Problem „normaler“ Polizeiarbeit sind. Seit Wochen beschäftigen sich die türkischen Boulevardmedien ausgiebig mit der angeblich stark ansteigenden Straßenkriminalität in den Großstädten. Organisierter Handtaschendiebstahl und stehlende Kinderbanden machen angeblich die Straßen immer unsicherer. Die Polizei ist unter Druck. Ein rechter Oppositionspolitiker hat Bürgerwehren gefordert, die ihre Stadtviertel schützen sollen.

Gökhan Bergüzer war wegen Straßenraubes verhaftet worden. Er war drei Monate zuvor aus der Haft entlassen worden, wo er eine Jugendstrafe wegen Straßenraubes abgesessen hatte. Auf Leute wie ihn ist die Polizei besonders schlecht zu sprechen.

Auch andere Fälle zeigen, dass es bei den Vorwürfen von Folter und Misshandlungen durch die Polizei nicht mehr wie in den 90er-Jahren hauptsächlich um politische Verfolgung von Kurden oder Islamisten geht, sondern soziale Probleme die Ursache für teilweise brutales Vorgehen sind. So beklagen Transvestiten in Istanbul, dass die Polizei sie diskriminiert und von den Straßen vertreiben will. Ein Betroffener namens „Hülya“, der monatelang wegen „Exhibitionismus“ in U-Haft saß, hat nun seinerseits eine Klage gegen die Polizei angestrengt und hofft auf einen Musterprozess.

Ausgenommen von dem Trend, dass Auseinandersetzungen zunehmend sozial und weniger explizit politisch sind, ist nach wie vor der kurdische Südosten des Landes. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD sind im letzten Jahr bei Gefechten zwischen der Armee und der kurdischen Guerilla 219 Kombattanten getötet worden. Seit die PKK im letzten Juni nach fünf Jahren relativer Ruhe ihren Waffenstillstand aufgekündigt hat, wird in den Bergen wieder regelrecht gekämpft. Der IHD meldet für die Gebiete Ost- und Südostanatolien 338 Foltervorwürfe im letzten Jahr. Diese betrafen überwiegend verhaftete Kurden, denen eine Mitgliedschaft oder Nähe zur PKK unterstellt wurde. Obwohl die Zahl erschreckend hoch ist, ist der Trend nach Angaben des IHD Vorsitzenden in Diyarbakir, Selahattin Demirtas, auch in den kurdischen Gebieten positiv. Die Zahl der Foltervorwürfe 2004 sei geringer als in den Vorjahren, heißt es in dem Jahresbericht des IHD aus Diyarbakir. JÜRGEN GOTTSCHLICH