Eine theatralische Familienaffäre

Die Mommsens sind als Historikerdynastie seit dem 19. Jahrhundert berühmt. An ihrem Beispiel zeigt der Journalist Peter Köpf, wie die deutschen Eliten 1933–1945 versagten

VON RALPH BOLLMANN

Mit dem familiären Frieden war es im Januar 1948 endgültig vorbei. In der Zeitschrift „Die Wandlung“ veröffentlichte der Journalist Konrad Mommsen das „politische Testament“ seines längst verstorbenen Großvaters. Kurz nach dem Ende des Naziterrors erfuhr die Öffentlichkeit, was der große Althistoriker Theodor Mommsen schon 1899 von den politischen Qualitäten der Deutschen gehalten hatte: nichts. In diesem Land, klagte der Gelehrte, komme der Einzelne „über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus“ nicht hinaus.

Fast fünfzig Jahre lang hatten die Nachkommen den Text sorgsam geheim gehalten. Ausgerechnet jetzt, in der vorgeblich finstersten Stunde der Deutschen, wurde er ans Licht gezerrt, und das auch noch von einem Familienmitglied selbst: Für die übrigen Verwandten war das schlicht Nestbeschmutzung. Billigung fand Konrad Mommsens Schritt allein bei dessen Bruder Theodor, der sich ebenfalls von den Nazis ferngehalten hatte und in den USA Geschichte lehrte.

In der berühmten deutschen Gelehrtenfamilie waren die Fronten fortan klar. Fertig ist damit auch die Versuchsanordnung für das Buch, das der Journalist Peter Köpf über den Mommsen-Clan geschrieben hat: Hier die wackeren Antifaschisten, die sich später resigniert das Leben nahmen, dort die Anpasser und Mitläufer, die sich den NS-Schergen bereitwillig andienten und in der späteren Bundesrepublik jede Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit verweigerten.

Nicht „von 1848 bis heute“, wie der Untertitel verspricht, erzählt Köpf die „Geschichte einer Familie“, sondern in erster Linie von 1933 bis 1945. Die Enkelgeneration Theodor Mommsens steht stellvertretend für das Versagen der deutschen Eliten im Nationalsozialismus, wobei die Fallhöhe durch den berühmten Großvater noch größer war. Da ist zunächst der Archivar Wolfgang Arthur Mommsen, der im Auftrag der Nazis osteuropäische Archive plünderte und nach dem Krieg zum Direktor des Bundesarchivs aufstieg. Da wäre sodann der Industriemanager Ernst Wolf Mommsen, der erst in Albert Speers Rüstungsministerium diente und später als Staatssekretär unter dem SPD-Minister Helmut Schmidt.

Köpfs besonderes Augenmerk gilt freilich dem Historiker Wilhelm Mommsen, der bis zu seiner Suspendierung 1945 als Professor in Marburg amtierte. Der Gelehrte ist ein besonders interessanter Fall: Genauso bereitwillig, wie er sich während der Weimarer Republik als einer der wenigen Hochschullehrer zum „bestehenden Staat“ bekannte, tat er dies auch nach 1933 und schwadronierte etwa über „die Verwandtschaft von Preußentum und Nationalsozialismus“. Während weitaus stärker belastete Kollegen die Entnazifizierung nach dem Krieg aber rasch hinter sich brachten, beharrte Wilhelm Mommsen nach Köpfs Darstellung uneinsichtig auf einem völligen Freispruch. Am Ende bekam er ihn sogar, doch war der Marburger Lehrstuhl längst anderweitig vergeben.

So musste sich der Ruheständler damit bescheiden, die Karrieren seiner Zwillingssöhne zu verfolgen und nach Kräften zu fördern. Der jüngst verstorbene Wolfgang J. Mommsen wurde ebenso wie sein Bruder Hans Mommsen zu einer Schlüsselfigur der linksliberalen Historikerszene in der Bundesrepublik. Im Buch kommt Hans Mommsen die undankbare Rolle zu, das Verhalten seines Vaters mit Argumenten zu rechtfertigen, die er in politischen Debatten keinem Rechtskonservativen hätte durchgehen lassen.

Wie in einem Doku-Drama schneidet Köpf diese Zitate des Sohnes weitgehend unkommentiert gegen die kompromittierenden Passagen aus den Texten des Vaters. Das erzeugt zwar einen theatralischen Effekt, aber die historische Einordnung kommt dabei zu kurz. Die Debatten der vergangenen Jahre über die NS-Vergangenheit deutscher Historiker bleiben ebenso ausgespart wie die Zusammenhänge der „Gelehrtenpolitik“ vor 1933. Damit macht es Köpf der universitären Geschichtswissenschaft allzu leicht, das Buch einfach zu ignorieren.

Um das verwirrende Familiengeflecht erzählerisch in den Griff zu bekommen, siedelt Köpf die Handlung des Buchs im Jahr 1948 an. Im Streit um das „politische Testament“ Theodor Mommsens bündeln sich alle Konfliktlinien, der Rest der Geschichte wird in Vor- und Rückblenden erzählt. Dadurch entgeht der Autor der Monotonie einer chronologischen Nacherzählung, zugleich erzeugt er aber neue Verwirrung. So verrät er auf den ersten 120 Seiten nur in vagen Andeutungen, um welches Testament die ganze Zeit so heftig gestritten wird. Nur mit einer gehörigen Portion Durchhaltewillen kann der Leser zu einer Familiengeschichte vordringen, die tiefe Einblicke in die Mentalität deutscher Eliten ermöglicht.

Peter Köpf: „Die Mommsens. Von 1848 bis heute. Die Geschichte einer Familie ist die Geschichte der Deutschen“. Europa Verlag, Hamburg 2004, 416 Seiten, 22,90 Euro