Wagemut wird belohnt

Mit wissenschaftlich fundierter Risikofreude wollen der Football-Coach Bill Belichick und seine New England Patriots morgen gegen Philadelphia zum dritten Mal in vier Jahren die Super Bowl gewinnen

Der Titel war für Bill Belichick nicht das Ziel, sondern nur ein Meilenstein auf dem Weg zur Perfektionierung des Football-Spiels

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL

Wenn im Football das vierte Down ansteht und die Mannschaft im Ballbesitz das Leder nicht aus der eigenen Hälfte gebracht hat, verlieren die meisten Trainer die Nerven. Die Gefahr ist groß, dass der Gegner gefährlich nahe an der eigenen Endzone den Ball bekommt, und die instinktive Entscheidung der meisten Männer an der Seitenlinie ist in einer solchen Situation der „Punt“ – sprich, das schweinslederne Ei so weit wie möglich in die gegnerische Hälfte zu treten und den Gegenangriff möglichst weit in der Hälfte des Opponenten zu stoppen. Bill Belichick, der die New England Patriots am Sonntag in Jacksonville gegen die Philadelphia Eagles zum dritten Mal in vier Jahren zum Gewinn der Super Bowl führen will, widersteht in solchen Situationen jedoch dem gesunden Trainerverstand. Er setzt darauf, dass seine Männer im letzten Down den geforderten Raum gewinnen, um den Ball zu behalten.

Man könnte Belichick für solche Entscheidungen eine unvernünftige Risikobereitschaft vorwerfen. Doch der 52-Jährige ist nicht um Argumente verlegen, derartige Kritik zu widerlegen. Der potenzielle Nutzen, einen Angriff fortzusetzen, überwiegt die potenziellen Kosten, dem Gegner eine gute Feldposition zu verschaffen. Das weiß Belichick. Mit absoluter Sicherheit. Sein Wissen hat der Patriots-Coach aus einer Studie des Professors David Romer, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Kalifornien. Romer ist passionierter Footballfan, und weil er das Spiel so liebt, hat er wirtschaftswissenschaftliche Methoden angewendet, um eine Kosten-Nutzen-Analyse strategischer Entscheidungen im Football zu erstellen. Das war mehr als Spaß gedacht, und Romer hat die Ergebnisse nur auf seiner privaten Website veröffentlicht. Doch Belichick, der selbst einen Abschluss in Ökonomie besitzt, hat die Studie gefunden. Und er fand Romers Analyse „in einigen Punkten ausgesprochen scharfsinnig“. Zum Beispiel was das Punten angeht.

Football erscheint auf den ersten Blick nicht eben als ein Sport, der Intellektuelle anzieht. Die amerikanische Intelligenz hat eher eine Vorliebe für Baseball. Trotzdem schadet es offenkundig auch im Football nicht, über einen scharfen analytischen Geist zu verfügen. Die Tatsache, dass Bill Belichick der derzeit erfolgreichste Football-Trainer der USA ist, ist dafür der beste Beweis. „Bill will jede Facette des Spiels verstehen“, sagt sein Studienkollege und Freund Rob Ingraham. „Er will wissen, warum ein bestimmter Angriff funktioniert. Er will wissen, wie man diesen Angriff blocken kann. Er will wissen, wie man ihn tarnen kann; wie man ihn variieren kann. Und er will wissen, mit wem er am Abend über diesen Angriff diskutieren kann. Er dreht in seiner Neugier jeden Stein um, den er findet.“

Belichick ist vom Drang besessen, das Football-Spiel in seinem Innersten zu verstehen. Das treibt ihn an, viel mehr, als Spiele und Trophäen zu gewinnen. Vierzehn Tage nachdem er im vergangenen Jahr zum zweiten Mal mit den Patriots die Super Bowl gewonnen hatte, flog er nach Alabama, um dort mit seinem früheren Defense-Coordinator Nick Saban neue Defensivvarianten zu diskutieren. Von dort flog er nach Florida, um sich mit Jimmy Johnson zu treffen – dem Trainer, der 1992 und 1993 mit den Dallas Cowboys als letzter vor ihm zweimal die Super Bowl gewonnen hatte: „Jimmy ist der Einzige in unserer Ära, der das durchlebt hat, was wir jetzt durchleben“, sagte Belichick. „Mit wem hätte ich denn sonst reden sollen?“ Ein Ausruhen gab es für Belichick nicht – der Titel war nicht das Ziel, nur ein Meilenstein auf dem Weg zur Perfektionierung des Football-Spiels.

Belichicks Besessenheit davon, das Football-Spiel bis ins Letzte zu durchdringen, begann, als er 10 Jahre alt war. Sein Vater Steve war damals Assistenz-Coach der US-Navy-Auswahl, und er nahm den kleinen Bill, wann immer es ging, mit zur Arbeit. Etwa zur Mannschaftssitzung, wenn dem Team die Analyse des nächsten Gegners vorgetragen wurde. „Bill saß damals 90 Minuten lang in der Ecke, sagte keinen Ton, starrte nach vorne und saugte jedes Wort auf“, erinnert sich sein Vater.

Belichicks Karriere war vorgezeichnet. Als Athlet im College war er begabter im Lacrosse als im Football, und eine Laufbahn als Profi kam für ihn nie in Frage. Stattdessen bewarb er sich am Tag nach seinem Hochschulabschluss bei 250 Football-Trainern als Assistent. Er heuerte schließlich bei den Baltimore Colts an und kletterte bei verschiedenen Teams die Assistenten-Leiter hoch. Bei den New York Giants blieb er hängen, wo er zwölf Jahre lang unter Bill Parcells arbeitete und mit ihm zusammen zweimal die Super Bowl gewann. Danach fühlte sich Belichick bereit, selbst eine Mannschaft zu führen. Den nötigen Handlungsspielraum, seine Ideen zu verwirklichen, fand er nach kurzen Engagements in Cleveland und bei den New York Jets jedoch erst im Jahr 2000 bei den New England Patriots.

Der Hauptgrund seines Erfolges mit den Patriots, sagen viele Beobachter, war, dass er als Ökonom die Salary Cap – die Gehaltsobergrenze für Spieler – am schlauesten und weitsichtigsten zu managen wusste. Wie viele andere Dinge verstand und durchdrang Belichick auch diesen Aspekt des Sports gründlicher und besser als seine Kollegen. Genauso, wie er begriffen hat, wie man große Erfolge wiederholt. „Wir sind nicht hier, um irgendetwas zu verteidigen“, sagte er zu Beginn dieser Woche in Jacksonville. „Wir sind hier, um zu gewinnen. Die Vergangenheit spielt keine Rolle. Das Einzige, was zählt, ist, am Sonntag in kritischen Situationen das Richtige zu tun.“ Für Belichick ist ein Triumph kein Ziel. Er ist eine neue Herausforderung. Und daran wird wohl auch ein dritter Titel nichts ändern.

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