GRUNDSÄTZLICH SIND OFFENE MÄRKTE FÜR DIENSTLEISTUNGEN RICHTIG
: Gute Idee, falsche Vorschrift

Die Warnschüsse gegen die europäische Dienstleistungs-Richtlinie klingen protektionistisch und scheinheilig. Die Liberalisierung des Dienstleistungssektors, schallt es aus Paris und Berlin, würde zu einem Lohn- und Sozialdumping führen. Das Prinzip „jeder arbeitet, wo er will, und zu den Bedingungen seines Herkunftslands“ müsse deshalb gestrichen werden.

Sicherlich kann es nicht sein, dass ein Handwerker – denn um die geht es neben Architekten und Krankenpflegern in der Richtlinie – aus Polen für den in seinem Heimatland üblichen Lohn in Deutschland arbeitet. Das hätte tatsächlich eine Senkung der deutschen Löhne und der Sozialstandards zur Folge. Denn in Polen wird nicht nur weniger bezahlt, die Arbeitnehmer müssen auch länger arbeiten und haben weniger Rechte. Außerdem stimmt die Qualität der Leistungen in den Mitgliedstaaten nicht überein. Die Garantie für die Arbeit eines Architekten ist zum Beispiel in Frankreich wesentlich länger als in Deutschland.

Das kann aber kein Grund dafür sein, dass die EU-Staaten mit hohen sozialen Standards ihre Dienstleistungsmärkte komplett verschließen. Die machen nämlich über 70 Prozent der EU-Wirtschaft aus, und damit geht es um das Herzstück der europäischen Integration: den Binnenmarkt. Das Projekt von Jacques Delors, einst Präsident der EU-Kommission, ist die Erfolgsgeschichte der Gemeinschaft schlechthin. Ihm verdanken wir es, dass sich alle EU-Bürger frei in Europa bewegen und sich niederlassen können, wo es ihnen gefällt.

Es ist also nur logisch, dass das Freizügigkeitsprinzip auch für die Dienstleistungen gelten soll. Was der Brüsseler Richtlinie allerdings fehlt, ist eine Harmonisierung in den einzelnen Berufsgruppen – eben wie bei den klassischen Produkten. Nicht umsonst legt die EU-Kommission die Größe von Tomaten oder die Mindesthaltbarkeit von Jogurt fest. Auch die Universitätsabschlüsse werden langsam vereinheitlicht. Sobald also gewisse Sozial- und Qualitätsstandards gesichert sind, sollte einer Öffnung der Dienstleistungsmärkte nichts mehr im Wege stehen. RUTH REICHSTEIN