Angst vor dem billigen Arbeiter

Bundeskanzler fordert erstmalig, die EU-Dienstleistungsrichtlinie müsse geändert werden. Danach sollen Pflegedienste oder Ingenieurbüros im EU-Ausland Geschäfte machen dürfen – nach den Regeln in ihrer Heimat. Kritiker hoffen auf Änderungen

VON ANNETTE JENSEN

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verlangt Änderungen an der EU-Dienstleistungsrichtlinie – und nannte dabei konkret den Arbeitsbereich der Wohlfahrtsverbände. „Berechtigte Schutzanliegen der Mitgliedsländer sollten ernster genommen werden“, ließ er seinen Sprecher gestern mitteilen.

Die geplante Richtlinie sieht vor, dass für Dienstleistungsunternehmen nur die Regeln gelten sollen, die auch im Heimatland der Firma ausreichen. Das bezieht sich auf Versicherungen, aber auch auf die Installation von Maschinen, die Pflege alter Menschen, Computerkurse oder Weiterbildung.

Als Horrorvision malen Kritiker den polnischen Pflegedienst an die Wand, der sein Personal nach polnischem Standard entlohnt und bei Fehlern nur in Polen verklagt werden kann. „Das Herkunftslandprinzip würde zu einer immensen Wettbewerbsverzerrung führen, weil wir hier zum Beispiel rund zwei Dutzend Regeln und Gesetze beachten müssen, die woanders nicht gelten“, sagt Joachim Kendelbacher von der AWO. Außerdem sei völlig unklar, wie Lettland oder Polen seine im Ausland aktiven Unternehmen kontrollieren solle. Sein Verband begrüßte deshalb gestern Schröders Äußerungen und interpretierte sie als klares Zeichen dafür, dass der Kanzler verstanden habe.

Als Positionswechsel will der Kanzler seine gestrigen Äußerungen jedoch nicht verstanden wissen. In den vergangenen Monaten hatten er und sein Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) sich stets sehr positiv zu dem grenzenlosen Handel mit Dienstleistungen in der EU geäußert. Angeblich sollen deutsche Firmen mehrere Milliarden Euro Umsatz zusätzlich machen können, wenn sie nicht durch bürokratische Vorschriften anderer Länder behindert würden.

Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne), Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und ihre Justizkollegin Brigitte Zypries (beide SPD) dagegen blickten eher auf den Import von Dienstleistungen – und äußerten Sorge um das Wohl der Verbraucher und deutsche Sozial- und Umweltstandards. Die Gewerkschaften und Attac laufen seit Monaten Sturm. In Frankreich, Belgien, Schweden und Dänemark gibt es Massenproteste.

Die Sprecherin der EU-Kommission sagte gestern, der Streit solle nun „pragmatisch“ gelöst werden. Die Richtlinie ganz zurückzuziehen komme aber nicht in Frage. Kompromisse werden schon deshalb notwendig sein, weil das EU-Parlament die Richtlinie zu Fall bringen könnte – und dort viele Kritiker sitzen.

Dabei halten selbst einige Vertreter aus dem Wohlfahrtsbereich die Kritik für überzogen. Sie sagen hinter vorgehaltener Hand, dass die Gefahren durch die Richtlinie überbewertet würden. Sobald sich nämlich ein Unternehmen in Deutschland niederlasse, müsste es nach deutschen Standards arbeiten. Daran werde die Richtlinie nichts ändern. Allenfalls für mobile Pflegedienste bestünde Gefahr.

Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) bedauerte gestern Schröders Äußerungen. Die Richtlinie sei „richtig und notwendig“, so die BDI-Europafrau Sigrid Hintzen. Maschinenbauunternehmen sähen sich häufig damit konfrontiert, dass sie bei der Wartung der von ihnen gelieferten Geräte vielfältige Nachweise über die Eignung ihrer Monteure vorlegen müssten. Gelegentlich hätten ausländische Behörden sogar verlangt, dass Ingenieure an einwöchigen Sicherheitsschulungen teilnehmen, bevor sie ihre Arbeit aufnehmen dürften. „Dabei machen die das zu Hause permanent.“ Die EU-Kommission glaubt an ein Jobwunder, der Dienstleistungsmarkt soll wegen der Richtlinie um 35 Prozent wachsen.