IM JAHR DES OCHSEN: DAS SANATORIUM DER KOHLENMINENARBEITER

VON CHRISTIAN Y. SCHMIDT

Ein richtiger Pekinger fährt im Sommer wenigstens einmal nach Beidaihe, dem Seebad 300 Kilometer von hier an der Bohai-Küste. Aus besonderem Anlass erledigten wir in diesem Jahr den Pflichtbesuch bereits Anfang Juni. Die Theatergruppe meines Schwiegervaters sollte bei einem Gesundheitskongress auftreten. Der fand im „Sanatorium der Kohlenminenarbeiter“ statt, einer großzügigen Anlage direkt am Meer, wo ansonsten die Staublungenkumpels aus Shanxi wieder aufgepäppelt werden. Bei unserer Ankunft war der Kongress bereits voll im Schwange: Ältere Damen schwebten in rosa Seidenanzügen durch die Hallen. Männer mit Rauschebärten massierten auf dem Parkplatz desolate Kniescheiben. Und Funktionäre standen in den Foyers und rauchten sich im Namen der Gesundheit die Lungen schwarz.

Wir machten zunächst einen Bogen um den Rummel und aßen außerhalb der Anlage zu Abend. Aus dem Restaurantaquarium wählten wir ein Ding zum Essen, das aussah wie ein großer, in einem Horn lebender Penis. Als ihn der Kellner aus dem Wasser nahm, spritzte tatsächlich eine milchige Flüssigkeit aus seiner Spitze. Der Wasserpenis schmeckte dann wie durchschnittlicher Tintenfisch, kostete aber umgerechnet stolze 8 Euro. Dafür gab’s am nächsten Tag für 3,50 Euro Vollpension im Sanatorium. Zum Frühstück empfing uns Onkel Li, der Chef der Theatergruppe. Wir aßen mit ihm und einem Mann mit gefärbten Haaren und gezupften Augenbrauen, der behauptete, wie 30 auszusehen, tatsächlich aber 63 war. Dazu gesellte sich ein anderer mit rotem Gesicht, der mit verbundenen Augen und auf dem Kopf stehend kalligrafieren konnte, wozu er Mundharmonika spielte. So stand es jedenfalls auf seiner Visitenkarte.

Abends wurde dann die große Gesundheitskongressgala gegeben und die Theatergruppe trat auf. Wie immer brachte mein Schwiegervater seinen Dialog zwischen einem fleißigen Ochsen und einem faulen Affen. Der Affe kam nicht gut weg. Neu im Programm war eine Nummer, in der es um Umweltschutz ging und die zwei neu zur Gruppe gestoßene Damen aufführten. Das Publikum interessierte sich nicht die Bohne für die erbaulichen Sketche. Stattdessen begeisterte man sich für die Tänze verschiedener ethnischer Minderheiten Chinas, die von einer Gruppe älterer, aber drahtiger Scharteken in wechselnd bunten Kostümen dargeboten wurden. Obwohl die Tänze nicht echt waren, filmte ich die ganze Show.

Im Zug zurück in die Hauptstadt erklärte der gegenüber auf der Bank seiner etwa 80-jährigen Tante drei Stunden lang schreiend, wie er mit dem Verkauf von zwei Parkplätzen 300.000 Yuan verdient hatte, und weshalb alle sonstigen Menschen blöde Fotzen seien, die keine Ahnung hätten und mal besser die Fotze ihrer Mutter ficken täten. Die alte Dame lachte alle fünf Minuten begeistert auf, und der Fotzenprediger rotzte zeitgleich in den Papierkorb. Und plötzlich dachte ich wieder daran, was für ein Glück ich habe, in China zu leben. Woanders halte ich es ja gar nicht mehr aus.