Der Sand, der Weg, der Wald

URSACHENFORSCHUNG Jedes nicht verfilmte Drehbuch hat eine Geschichte. Am Mittwochabend ging es im Brecht-Haus um Klaus Schlesingers „Kleist“

Ein gut vermarktetes Drehbuch kann Ausgangspunkt einer großen Filmkarriere sein. So ließen sich die damals noch weitgehend unbekannten Schauspieler Matt Damon und Ben Affleck beim Verkauf ihres Buchs zu „Good Will Hunting“ tragende Rollen in der Verfilmung zusichern, genauso wie es der junge Sylvester Stallone knapp zwei Jahrzehnte zuvor mit „Rocky“ getan hatte. Oft jedoch ist das Gegenteil der Fall: Ein Drehbuch, an dem man lange gearbeitet hat, wird überhaupt nicht verfilmt, das Projekt – und mit ihm der Autor – gilt als gescheitert.

Obwohl gern als etwas Sekundäres wahrgenommen, als Bauanleitung ohne weiteren literarischen Wert, wird diese Haltung der poetischen und präzisen Sprache der Bücher etwa von Michelangelo Antonioni, David Lynch oder Carl Mayer, der für Murnau das Buch zu „Der letzte Mann“ geschrieben hat, auch nicht ansatzweise gerecht.

Am Mittwochabend fand im Literaturforum im Brecht-Haus die letzte Veranstaltung einer dreiteiligen Reihe statt, die unter dem Titel „Nicht gedrehte Filme“ Defa-Drehbücher aus drei Jahrzehnten vorstellte. Nach den Fünfzigern mit Günter Kunert und den Sechzigern mit Stefan Heym waren nun die Siebzigerjahre dran, repräsentiert durch Klaus Schlesinger und seinen „Kleist“. Nach einer kurzen Einführung in die Arbeitsmechanismen der Defa durch Moderator Günter Agde ging es gleich in medias res, als die Schauspieler Jana Kozewa und Alexander Höchst Passagen aus Schlesingers Drehbuchfragment lasen. „Unsere Geschichte spielt im Jahre 1811 in Preußen“, begann Jana Kozewa eine Story, die von einer Rahmenhandlung – der Untersuchung von Kleists Tod – ausgehend verschiedene Episoden im Leben des Autors durchleuchtet.

In seinem reduzierten, stakkatohaften Rhythmus gelingt es Schlesingers Text, Situationen knapp und doch prägnant zu visualisieren: „Der Sand, der Weg, der Wald. Der Herr, die Dame, verkrampfte Stellung, der Tisch, die Stühle, eine Pistole“ – so wird der Selbstmord Kleists und Henriette Vogels geschildert, mit dem der Plot einsetzt. Mit einer bemerkenswerten Akribie hat sich Klaus Schlesinger in Heinrich von Kleists Biografie hineingearbeitet, um – wie er selbst in einem Text geschrieben hat, in dem er die Arbeit am Drehbuch reflektiert – „Bruchstellen“ aufzuspüren, welche die wachsende Entfremdung zwischen Kleist und seiner Umgebung verdeutlichen. In einer Szene, einem Kartenspiel mit der Familie, wird dieser Riss, diese Unmöglichkeit einer Kommunikation besonders klar. Seine Tante wirft ihm vor, sein Leben zu vergeuden, Kleists immer vehementer vorgetragene Forderung „Ich kann kein Spiel spielen, wenn ich nicht weiß, was Trumpf ist“ wird von niemandem registriert – genauso wenig wie seine Aufforderung an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge, mit ihm in der Fremde ein neues Leben zu beginnen.

Die Frage nach der Ursache für das finale Scheitern des Projekts klärte das anschließenden Gespräch zwischen Günter Agde und Inge Wüste-Heym, Schlesingers damaliger Defa-Dramaturgin. Sie lag nicht etwa in der vom Autor immer wieder befürchteten Unmöglichkeit einer Verfilmung des Stoffs aufgrund mangelnder visueller Qualität, der zum Trotz Schlesinger das Buch in ein Stadium gebracht hatte, in dem es 1977 – Kleists zweihundertstem Geburtsjahr – durchaus hätte verfilmt werden können. Vielmehr war Klaus Schlesinger zu diesem Zeitpunkt als Sympathisant Wolf Biermanns, der kurz zuvor aus der DDR ausgewiesen worden war, bereits zur Persona non grata geworden.

Es liegt schon eine gewisse Ironie darin, dass das „Kleist“-Projekt genauso an widrigen äußeren Umständen scheitern musste wie Kleists Leben selbst, der hoch verschuldet und emotional ausgebrannt keinen Ausweg mehr sah, als sich im Alter von 34 Jahren das Leben zu nehmen. Allerdings befindet sich Schlesingers Buch in seinem Nicht-verfilmt-worden-Sein in guter Gesellschaft. Denn auch Heiner Carows „Grimmelshausen“-Projekt wurde so lange torpediert, bis es schließlich nicht mehr zu realisieren war. Überhaupt kann man die ganze Geschichte ja auch andersherum betrachten: Das Gute an einem unverfilmten Drehbuch ist, dass ihm eben nicht der Makel des Sekundären anhaftet.

ANDREAS RESCH