Halt immer noch ein Plätzchen frei im Wohnzimmerpop Berlins: Tele fast wie Supertramp, und MissinCat schnurrt den urbanen Folk

Den Sound von Berlin, den gibt es nicht. Das wurde vor nun schon einiger Zeit definitiv festgestellt, weil: Zu groß ist die Stadt, zu heterogen. Aber, wenn wir das Spielchen noch mal spielen wollen: Warum eigentlich nicht Tele?

Denn wenn man die Karriere des Quintetts verfolgt bis zum neuen Album „Jedes Tier“, stellt man fest, dass Sänger Francesco Wilking über Jahre erstaunlich nahe am verschlungenen Selbstfindungsprozess der Stadt entlang textete. Aus vielen personalisierten Geschichten setzt sich ein Berliner Panoptikum zusammen, aus dem Privaten erwächst das Politische. Das funktioniert auch deshalb so gut, weil Tele einst aus Freiburg herzogen und damit eine grundsätzliche Erfahrung mit ihrer Klientel teilen.

Repräsentativ leben Tele in der Stadt der Zugezogenen, der Exilanten und Flüchtlinge aus der Provinz. Sie berichteten aus dem Bauch der urbanen Boheme, die es sich im vergleichsweise billigen Berlin bequem gemacht hatte, und begleiteten sie aus der kreativen Freiheit in die selbstverwaltete Selbstausbeutung. Mit „Jedes Tier“ sind Tele endgültig in der Krise angelangt. „Es waren Jahre voller Sex und Musik“, singt Wilking über die Vergangenheit der Stadt, die ihr Bürgermeister mal als „arm, aber sexy“ bezeichnet hat. Heute aber ist das Vanity-Fair-Abo ausgelaufen: „Glaub mir, es reicht, wenn du weißt, jeder hat andere Sorgen.“ Hoffnung gibt es kaum noch. „Wir träumen, dass wir träumen“, säuselt Wilking, während der Rest der Band die Ausweglosigkeit bebildert mit entspanntem, marshmellowweichem Soft Rock. Das ist so ohne Ecken und Kanten, so flockig und fluffig, vertraut und heimelig, als wollten Tele einer Band wie Supertramp die Ehre retten. Demnächst dürften dann wohl die Spatzen die Lieder von Tele vom Fernsehturm pfeifen.

Vielleicht aber klingt der Sound von Berlin, wenn es ihn denn doch geben sollte, ganz anders. So wie MissinCat nämlich, nach akustischer Gitarre, nach urbanem Folk, irgendwie international, aber doch auch ganz gemütlich. Oder anders gesagt: nach Wohnzimmer, wo die Hauptstadt ja schließlich vor gut einem Jahrzehnt zu sich selbst fand. Dieses Wohnzimmer hat MissinCat auf dem Cover ihres Debütalbums „Back On My Feet“ unter Wasser gesetzt: Da liegt sie nun auf dem Wohnzimmertischchen, daneben werden Stehlampe und Sessel nass. Es ist ein zwar wahrscheinlich nicht beabsichtigtes, aber schönes Bild: Der Neuankömmling aus Italien bewässert eine Berliner Tradition neu – oder spült sie wahlweise auch hinweg.

Ein musikalischer Tsunami nun gelingt Caterina Berbieri, wie MissinCat von ihrer Mamma genannt wurde, nicht gerade. Aber die Musikerin, die bereits eine Karriere als Bassistin in einer nicht sonderlich erfolgreichen italienischen Band hinter sich hatte, als sie nach Berlin kam, weiß sehr genau, wie man einen schönen, melancholischen Song strukturiert und die Vorhersehbarkeit rechtzeitig wieder bricht mit einer lustig verquengelten Trompete. Aber ob das der Sound von Berlin ist? Eher nicht. Schon aus Prinzip. THOMAS WINKLER

■ Tele: „Jedes Tier“ (Tapete Records/Indigo)

■ MissinCat: „Back On My Feet“ (R.D.S./Soulfood), live 13.6. Waschhaus Potsdam, 19.6. Aufsturz