Galoppierender Schwund

Eine Langzeitstudie belegt die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft. Das interessiert die Bremer SPD – die aber ratlos bleibt

Die deutsche Demokratie wird immer leerer, warnt der Soziologe

Bremen taz ■ Die Ergebnisse der repräsentativen Langzeitstudie über die „Deutschen Zustände 2004“ sind alarmierend: Der Rechtsextremismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, Demokratie und politische Eliten haben dramatisch an Vertrauen verloren. Die Spaltung zwischen Arm und Reich, Ost und West, Deutschen und Muslimen wächst stetig an.

Seit mehr als zehn Jahren beobachtet der Bielefelder Konflikt- und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer diese Entwicklung, am Samstag trug er seine aktuellen empirischen Befunde rund 150 Gästen der SPD-Bürgerschaftsfraktion vor – im Rahmen der SPD-Veranstaltungsreihe „Der rote Faden der Politik“.

Wie die Parteien auf seine wissenschaftlichen Erkenntnisse reagieren sollen, wusste Heitmeyer nicht zu sagen: Dazu habe er „keine Idee“ bekannte der Forscher. Ähnlich erging es dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Jens Böhrnsen – und vielen Mitdiskutanten (siehe nebenstehendes Interview).

2.660 Bundesbürger hat der Soziologe 2004 befragt, fast zwei Drittel von ihnen ordneten sich der politischen Mitte zu. Genauso viele sind der Auffassung, in Deutschland lebten „zu viele“ AusländerInnen. Sogar 70 Prozent finden, dass die muslimische Kultur nicht in die westliche Welt passe – Tendenz steigend. Und zwei von drei Deutschen können sich nicht vorstellen, in einem Viertel zu leben, in dem viele Muslime wohnen.

Ausländerfeindlichkeit ist also beileibe kein „politisches Randphänomen“ mehr, betont Heitmeyer. Vielmehr sei heute schon wieder jeder vierte Deutsche anfällig für rechtsextreme Verlockungen. Seine Warnung: „Die Demokratieentleerung nimmt immer dramatischere Formen an.“ Geradezu „galoppierend“ sei der Vertrauensverlust, dem sich die Politiker ebenso wie die demokratischen Institutionen ausgesetzt sähen.

Parallel dazu steigt die Angst der Bundesbürger, selbst arbeitslos zu werden, massiv an: Hegte 2002 nur etwa jeder vierte Befragte die Befürchtung, die eigene wirtschaftliche Situation werde sich in naher Zukunft verschlechtern, waren es zwei Jahre später schon mehr als 40 Prozent. Zugleich sind neun von zehn Deutschen der festen Überzeugung, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.

Dennoch setze die praktische Politik immer öfter die Rationalität des Marktes, kritisierte der Soziologe. Doch gerade das zerstöre Vertrauen: „Der Markt kann weder Werte noch Normen vermitteln.“ Wenn die Politik umsetze, was Unternehmens- und Regierungsberater wie Roland Berger forderten, warnte Heitmeyer, „dann stehen wir vor einem autoritären Kapitalismus in seiner reinsten Form“. Jan Zier