Keine Alternative, bloß billiger

Das „100° Berlin“-Festival präsentierte am vergangenen Wochenende in den Sophiensaelen und in den Theatern am Halleschen Ufer die Freie Theaterszene Berlins. Ein einsamer Höhepunkte war André Rößlers Joschka-Fischer-Montage

Das Publikum sucht noch im Rührstückdie Lacher, es will unterhalten werden

VON JÖRG SUNDERMEIER

Samstag. Nachts. Ich vor den ekligen Rosenhöfen, frierend. Durch sie bin ich mehrfach gegangen in dieser Nacht, dann durch die Hackeschen Höfe in die Sophiensaele, die mit ihrer Brüchigkeit das archivieren, was der Bezirk Mitte mal war – billiger Raum, in dem man Kunst macht oder einen Club. Das Festival „100° Berlin“ präsentierte zwischen Donnerstag und Sonntag die Freie Theaterszene: Gruppen, Grüppchen und Einzeltäter zeigten ihre Produktionen, bespielten das HAU 1, 2 und 3, die Sophiensaele und dabei auch die Foyers und Probebühnen. Selbst gemacht, schnell gemacht.

Im Sophiensaele-Foyer werden Videoclips von rauchenden Frauen auf die Wand projiziert, „Zigarettenmädchen“ nennt Alfred Himmelweiss diese Filme und diese Frauen. Die lassen sich hier anstarrend, rauchend, schluckend, nervös, die Kamera fixierend, ihr ausweichend. Standardszenen der Pornobranche. Doch hier soll es ganz neu sein: „Das erste Begehren ist das Begehren mit den Blicken, die Zigarettenmädchen von Himmelweiss sind unseren Blicken nicht hilflos ausgeliefert, sondern sie flirten mit uns, unseren Blicken“, steht im Programmheft. Während die „Mädchen von Himmelweiss“ rauchen, rauchen die Menschen davor, nutzen das Foyer für Gespräche, einen Drink, ein lockeres Treffen. Es sind viele Leute da, der Altersdurchschnitt dürfte so um 30 liegen.

Im Saal eine Brüder-Grimm-Bearbeitung, Versatzstücke aus den Märchen werden mit Schlagern kombiniert, das alte Mann-Frau-Dilemma wird illustriert, rohes Fleisch wird hergezeigt. Offensichtlich aber gibt es neben dem Unbehagen, dass die Dramaturgen angesichts der Grimm’schen Mord- und Liebesbilder fühlten, kein Konzept, das Stück bleibt oberflächlich. Das Publikum findet’s gut, es lacht, etwa wenn ein Chor von Rentnern hereinkommt. Rentner scheinen wohl per se komisch zu sein.

Später im HAU 2 das Stück „Joschka Fischers langer Lauf zu sich selbst“, André Rößlers Montage von Sätzen aus Fischers Fitness-Selbsterkennungsbuch. Rößler trägt den Text vor, während er auf der Stelle läuft, er keucht, und der ganze martialisch-vitalistische Gestus des „zu sich selbst“ kommenden Außenministers wird so verstärkt. Auch im Dialog mit sich selbst noch ganz Angeber. Rößlers Leistung ist beachtlich, das Stück gut gemacht, doch ist die Methode Kabarett – wenn es noch gutes Kabarett gäbe.

Jetzt, vor den Rosenhöfen, warte ich auf den Shuttlebus, der HAU und Mitte verbindet. Ich fürchte den Shuttlebus, denn in ihm wird ein fürchterlich albernes Hörspiel gespielt, die ganze Fahrt über. Im wunderbaren alten Hebbel-Theater, dem heutigen HAU 1, werde ich mir ein leises Stück anschauen, allerdings komme ich zu spät. Das Hörspiel im Bus ist symptomatisch für das Festival, denn eine Fahrt mit dem Bus gibt nicht die Chance, das Hörspiel zu Ende zu hören. Der Weg ist zu kurz. Genauso wird in die Stücke geströmt und wieder hinaus, Theater mit Ab- und Aufgängen, für Konzentration ist da wenig Platz. Vielmehr wird hier Kultur in ganz großen Happen präsentiert, schnelle Brocken vom Kochlöffel, dann muss schon das nächste Süppchen probiert werden. Am Ende ist man satt, weiß jedoch nicht mehr, was man da alles geschmeckt hat. Das Prinzip ist Völlerei.

Entsprechend verhält sich das Publikum, sucht auch im Rührstück noch die Lacher, es will billig unterhalten werden. Dass vor dem HAU 1 ein Fahrrad steht, das blöde mit auf Pappe gedruckten Sinnsprüchen verziert ist, „HAU could that happen“ etc., passt hervorragend, nahezu alles wird hier zu Kleinkunst degradiert. Bei Rößlers Stück zum Beispiel war das Lachen zunächst affirmativ, die Leute lachten über die kernigen Witze Fischers, meinten allerdings, über Fischer zu lachen. Nur die konzentrierte Leistung Rößlers vermochte es dann doch noch, zumindest ein Befremden zu erzeugen.

Die taz, die das Festival präsentierte, erreichten im Vorfeld viele Briefe. Theaterleute, die um eine gesonderte Besprechung bitten, die bereits ahnen, dass sie andernfalls in der Masse unterzugehen drohen. Andere monierten den kulturellen Mehrwert, den sich der Theaterschließungssenat auf diese Weise billig erkauft. „Das 100° ist eine Falle. Künstler werden mit scheinbar großartigen, gut beworbenen Auftrittsmöglichkeiten geködert. Letztendlich verdienen alle, bis auf die Künstler selbst“, schrieb ein Mitglied des „Instituts für Primärenergie“, das am Rand des Festivals Almosen sammelte. Andere Gruppen wiederum freuten sich über die ungewohnt vielen Zuschauer.

Neues wurde nicht gesehen und gehört, in ästhetischer Hinsicht blieb das Festival unbefriedigend. Das Freie Theater ist keine Alternative mehr zum Stadt- und Staatstheater, es ist nur preiswerter zu haben.