PETER UNFRIED über CHARTS
: Der Erlöser

Max Schmelings zentrale Leistung war nicht der Sieg gegen Joe Louis – es war sein Leben im Nachkriegsdeutschland

Neulich saß ich nach langer, langer Zeit mal wieder an einem Boxring. Es ergab sich, dass ich meiner jungen Begleiterin einen alten Bekannten vorzustellen hatte. Ich sagte: „Honey, das ist der Mann, der das letzte Interview mit Max Schmeling geführt hat.“ Sie antwortete: „Ach ja?“ Später wurde mir klar, dass das für sie nichts bedeutete. Für mich war das in all den Jahren immer das Erste und Einzige gewesen, was ich dachte, wenn er um die Ecke bog: Jesus Christus, da kommt der Mann, der Schmeling interviewt hat.

Als vergangenen Freitag die Nachricht von Schmelings Tod kam, rief ich Wolf Wondratschek an, um zu hören, wie er die Geschichte abschließend deute. Good guy, bad guy, Nazis? „Hören Sie“, sagte der Dichter sehr absolut, „ich stand ihm gegenüber und habe die Hand geschüttelt, die Joe Louis geschlagen hat.“ Das hieß wohl: Leck mich. Da erinnerte ich mich an einen Boxmuseumsbesitzer auf Rügen, der mir einst vom größten Moment seines Lebens erzählt hatte. Wie es draußen schon dunkel ist, wie der Raum plötzlich hell wird, als eine Gestalt eintritt, wie er blass wird, als er erkennt, um wen es sich da handelt.

Warum haben die Deutschen mehrerer Generationen (mich eingeschlossen) Schmeling bloß dermaßen aufgeladen? Und womit eigentlich genau? Und warum ist er für 30-Jährige ohne Bedeutung?

Er selbst hat in seinen „Erinnerungen“ darüber sinniert, wie „sonderbar“ es sei, dabei ist es ganz einfach: Schmeling lebt, weil er mehr als ein Boxer ist. Insofern ist das größte Missverständnis die Fokussierung auf den Sieg über Joe Louis 1936. Schmeling steht für ein deutsches Jahrhundert – und zwar mit fast allen Schikanen. Aus dem Aufsteiger der Weimarer Republik wurde des Teufels Athlet. Er hat vieles mitgemacht, manches nicht – und wie schwer Ersteres und Letzteres in den Zwängen der Zeit fiel, kann man nicht in einem Nebensatz verhandeln. In seinen muskelgestählten Körper projizierte Goebbels jedenfalls die Überlegenheit des deutschen Soldaten. Als Hitler der Hals kratzte, empfahl ihm Schmeling beim Tee seinen HNO-Arzt, so nah war er dran. Er sah früh, dass Joe Louis eine kleine Deckungsschwäche hatte, anderes sah er nicht. Wie jeder gute Deutsche kannte er einige Juden persönlich. Für die setzte er sich ein. Und er sagte ganz klar: „Dass es Konzentrationslager gab, war kein Geheimnis.“

Es ist hart für Schmeling, aber der Sieg von 1936 war und bleibt Hitlers Sieg. Von überragender Bedeutung für die Welt ist „die bitterste und schmerzliche Niederlage meines Lebens“, der Erstrunden-Knockout gegen Louis im zweiten Kampf 1938. Schmeling hat auch deshalb in der weltweiten Erinnerung überlebt, weil er in den USA für viele nur ein anderes Wort für Nazi war. In einem seiner Filme begründet Woody Allen die Trennung von einer Frau folgendermaßen: Wann immer er mit ihr bumse, verwandle sich ihr Gesicht in das von Schmeling. Der Witz ist ohne Schmeling=Nazi kein Witz. Insofern markierte die Niederlage des Nazirepräsentanten 1938 den Anfang vom Ende des Mythos vom unbesiegbaren Dritten Reich.

Auch für die nationale Bedeutung ist keinesfalls Schmelings Sieg von 1936 zentral, sondern seine stille Nachkriegskarriere in der Bundesrepublik. Es ist die ökonomische und moralische Erfolgsgeschichte eines geläuterten Exmitläufers, der mit den Nazis aufsteigt, mit den Nazis fällt, und nach 1945 die Kurve kriegt, in dem er sich in US-amerikanischer Coca-Cola reinwäscht. Und der dann den Rest seines Lebens damit verbringt, irgendwo in Deutschland tagsüber mit seinem Geld Gutes zu tun und dann früh ins Bett zu gehen. So wirkte Schmeling über 50 Jahre still und doch so tief beruhigend wie sonst keiner auf das kollektive Gewissen von Nachkriegswestdeutschland ein.

Dass die 30-Jährigen sich also nicht mehr um Schmeling geschert haben? No offense. Sie brauchten Schmeling nicht. Wer immer ihn aber als Erlöserprojektion von der Nazischuld gebraucht hat – er spreche ein stilles „Danke, Schmeling“. Und bewahre sein Andenken.

Fragen zu 1938? kolumne@taz.de Morgen: Bernhard Pötter über KINDER