Schleuser-Ausschuss zählt noch

Wie groß war der Missbrauch mit Visa-Anträgen an der deutschen Botschaft in Kiew? Von „hunderttausenden“ Tricksern spricht die Union, doch genaue Zahlen fehlen

BERLIN taz ■ Der Schleuser-Untersuchungsausschuss tagt erst nächste Woche wieder, aber die öffentliche Diskussion geht unvermindert weiter. Umstritten sind bereits die Zahlen: Wie viele „Illegale“ sind denn überhaupt nach Deutschland geströmt, weil ein rot-grüner Erlass vom 3. März 2000 verfügte, dass bei Visa-Anträgen „im Zweifel für die Reisefreiheit“ zu entscheiden sei? Haben sich tatsächlich „hunderttausende“ eine Einreise erschlichen, wie die Union fürchtet?

Das dürfte nicht eindeutig zu ermitteln sein. Denn es fehlen Zahlen und Statistiken über die illegale Zuwanderung nach Deutschland. Bekannt ist nur so viel: Weltweit geben die deutschen Botschaften jährlich knapp drei Millionen Visa aus. Auch der umstrittene Erlass, inzwischen aufgehoben, galt weltweit – führte aber nur in Moskau, Kiew, Tirana und Priština zu erkennbaren Problemen.

Unter diesen vier Botschaften ist vor allem Kiew auffällig: 1998 wurden dort nur 133.420 Visa erteilt – 2001 waren es dann plötzlich 297.391. Schon im benachbarten Moskau hingegen stiegen die Zahlen längst nicht so dramatisch. 1998 wurden 217.238 Visa ausgegeben, 2001 dann 231.649.

Auch auffällig in Kiew: Viele Antragsteller wiesen einen Reiseschutzpass vor, den sie bei der Firma Kübler erworben hatten. Die Idee der Reiseschutzpässe existierte schon unter der Regierung Kohl: Die Antragsteller mussten keinen deutschen Bürgen mehr vorweisen, der bei Bedarf für medizinische Versorgung oder Ausweisung aufkam. Das übernahm nun eine große Versicherung wie die Allianz.

Insgesamt etwa 170.000 dieser Reiseschutzpässe hat Kübler drucken lassen – das ist die letzte verlässliche Zahl in der Affäre. Denn bisher ist ungeklärt: Konnte Kübler seine Pässe auch alle verkaufen? Und wenn ja, konnten seine Kunden die Papiere tatsächlich weiterverwenden, um ein Visum zu beantragen? Denn die Pässe gerieten recht bald in Misskredit: Im Mai 2001 waren sie zugelassen worden, aber schon im Februar 2002 wurden sie von der Botschaft in Kiew nur noch rationiert anerkannt. Ab März wurden sie dann gar nicht mehr akzeptiert – dies galt zunächst vorläufig und war dann ab Juli 2002 endgültig.

Als Erkenntnis bleibt: Rechnet man die Jahre 2000 bis 2002 zusammen, so wurden in Kiew etwa 300.000 Visa mehr ausgeteilt, als es den Vorjahren entsprochen hätte. Daraus folgt jedoch nicht zwingend, dass diese 300.000 Zusatztouristen alle illegal in Europa geblieben sind. Zumindest einige werden tatsächlich nur ihre Verwandten oder Freunde besucht haben.

Das Berliner Wissenschaftszentrum riet kürzlich zur Gelassenheit: Die Probleme der illegalen Zuwanderung würden überschätzt. In einer Studie kamen die Forscher zum Ergebnis, dass die Zahl der Illegalen in Deutschland seit 1996 konstant geblieben sein dürfte. Allerdings, so auch hier die Einschränkung: „Es kursieren eine Menge Zahlen, aber keine davon hat eine halbwegs solide Grundlage.“

ULRIKE HERRMANN