BETTINA GAUS POLITIK VON OBEN
: Jenseits von Gut und Böse

Regierungen jagen Räuber – so geht die Geschichte von der Piraterie. In Kenia wird sie anders erzählt

An einem Baum in Nairobis noblem Wohnviertel Gigiri hängt ein Pappschild: „Grundstück NICHT zu verkaufen.“ Wer soll diese Botschaft mitgeteilt bekommen? „Die Somalis“, erklärt ein befreundeter Bauingenieur. „Sie kaufen doch gerade Nairobi auf.“ Die Somalis kaufen die kenianische Hauptstadt? Ist das nicht etwas übertrieben? „Eher untertrieben“, antwortet der Freund. „Sie kaufen auch Mombasa.“ Also die wichtigste Küstenstadt.

Wichtige Ereignisse lassen sich oft auf ganz unterschiedliche Weise erzählen. Einige der Geschichten erinnern an Märchen. Im Hinblick auf Somalia hört sich das in Deutschland derzeit etwa so an: „Liebe Kinder, an einem fernen, fernen Ort überfallen böse Piraten regelmäßig Schiffe. Da die gute Regierung des Landes, aus dem die Piraten stammen, zu schwach ist, um selbst für Ordnung zu sorgen, beschützen liebe Soldaten aus anderen Staaten die armen Seeleute. Die gute Regierung des Nachbarlandes stellt die bösen, bösen Piraten vor Gericht. So können bald alle wieder friedlich miteinander leben.“

Die Geschichte, die derzeit in Kenia erzählt wird, ist nicht so märchenhaft, dafür vielschichtiger. Die Immobilienpreise dort sind in den letzten Monaten explodiert. Somalische Geschäftsleute kaufen Grundstücke, Häuser, ganze Straßenzüge. Die Mittel scheinen unerschöpflich zu sein. Handelt es sich um Lösegeld, das Piraten erbeutet haben? Wer weiß. Was man weiß: Die Käufer zahlen pünktlich – und immer bar.

Das ist ein guter Nährboden für Verschwörungstheorien. Ihm sei erzählt worden, so bloggt ein Kenianer, dass die Somalis beschlossen hätten, erst einmal die Kenianer auszukaufen, um so schließlich die politische Richtung diktieren zu können. „Die Typen kaufen auch kenianische Ausweise und Pässe.“ Ermöglicht werde das durch die weitverbreitete Korruption. Ein anderer schreibt: „Wenn wir nichts unternehmen, werden die Strolche in der Regierung sogar noch die Luft verkaufen, die wir atmen.“

Gemeint ist: die kenianische Regierung. Und deren Bereitschaft, Somalis mit Pässen zu versorgen. Aber wer sind eigentlich „die Somalis“? Der Norden Kenias ist von ethnischen Somalis bewohnt. Leicht fällt die Unterscheidung nicht zwischen Staatsbürgern und Immigranten aus dem somalischen Kernland.

Von hier an wird das Märchen zu einer Denksportaufgabe. Die sogenannte Übergangsregierung in Somalia wird von den USA und ihren Verbündeten – also auch von Kenia – gestützt, um eine Machtübernahme radikaler Islamisten zu verhindern. In dieser „Übergangsregierung“ sitzen regionale Warlords und sogar Islamisten, die einander alle nicht grün sind. Frage: Ist Piraterie in einem von rivalisierenden Milizen beherrschten Land organisierbar, ohne dass zumindest einige der Warlords dahinterstecken?

Wer kann das wissen. Aber es muss so sein, denn sonst ergäbe sich ja folgendes Bild: Westliche Militärs jagen Piraten, die als Geldbeschaffer für Mitglieder einer „Regierung“ operieren, die vom Westen unterstützt wird. Im westlichen Auftrag stellt das Nachbarland Kenia einige Piraten vor Gericht, deren Hintermänner gleichzeitig die Beute in Kenia investieren.

Ist das vorstellbar? Nein. Das kann nicht sein. Das wäre ja weder ein Märchen noch eine Denksportaufgabe. Sondern absurdes Theater.

„Die Somalis zahlen wenigstens“, sagt mein Freund, der Bauingenieur. Er macht gerne Geschäfte mit ihnen. Mit wem auch sonst in Zeiten einer Weltwirtschaftskrise?

■ Bettina Gaus ist politische Korrespondentin der taz und bereist zurzeit Kenia

Foto: Amélie Losier