Chinesen und Vietnamesen feiern heute Silvester
: Mit dem Hahn kommt das Unglück

Sie haben ihre Wohnungen mit Zweigen festlich geschmückt. Es kommen Gäste, für die Kinder gibt es Geschenke. Sie kochen Festgerichte wie Klebreiskuchen und haben kandierte Früchte bereitgestellt. Und sie haben ein Huhn gekauft. Jede Familie eines. Sie werden es mit Kopf und Krallen auf dem Hausaltar ausbreiten – und aus den Krallen ablesen, wie das neue Jahr wird.

Aber sie haben es nicht leicht, die rund 10.000 Vietnamesen und 5.500 Chinesen in Berlin, die heute ihr Silvester und morgen Neujahr feiern – oder das Tetfest, wie die Vietnamesen die viertägige Feier nennen. Denn es scheint fast egal, wie die Hühnerkrallen liegen: Das neue Jahr ist ein Jahr des Hahnes. Und Hahnjahre gelten als Unglücksjahre. Trotz großem Fleiß, Pünktlichkeit und Ehrlichkeit – Tugenden, die in Hahnjahren groß geschrieben werden – wird sich kein Erfolg einstellen, glaubt man den Voraussagen.

Kinder soll man deswegen in diesem Jahr möglichst nicht bekommen. Hochzeiten sind auch zu vermeiden. In der alten vietnamesischen Schriftsprache gibt es ein Wortspiel zwischen „Hahn“ und „Tod“: Hahnjahre sind als Hunger- und Kriegsjahre überliefert. Am schlimmsten war es 1945, als zwei Millionen Vietnamesen verhungerten. Französische und japanische Besatzer hatten das Land zuvor ausgeplündert und den Reis verfeuert, um ihre Lokomotiven zu heizen.

Vietnamesen rechnen sogar mit einem großen Unglück in diesem Jahr. So wird in den Berliner Asia-Großmärkten darüber spekuliert, ob die Vogelgrippe jetzt auf den Menschen übertragen wird und viele Tote bringt. Oder kommt ein Wirtschaftscrash? Den erwarten die Händler weniger für Vietnam, wo die Wirtschaft boomt, sondern für sich selbst. Die meisten Vietnamesen und immer mehr Chinesen in Berlin sind kleine Ladeninhaber, die von morgens bis spätabends hinter Ladentisch oder Tresen stehen. Viele bieten Billigtextilien oder Geschenkartikel made in Fernost an und kämpfen ums Überleben.

Aber erst einmal wird gefeiert. Viele Läden, Imbissstände und Chinarestaurants sind daher geschlossen. Ihre Inhaber verbringen eine Woche mit der Familie.

Egal ob buddhistische oder katholische Gemeinde, ob ein Migrantenverein der vietnamesischen Botschaft nahe steht oder ob er die Fahne der alten südvietnamesischen Regierung aufgehängt hat: Das Neujahrsfest begehen alle. Schließlich hat es mit seinem naturreligiösen Ursprung dem Buddhismus ebenso standgehalten wie christlichen Missionaren oder den Atheisten Ho Chi Minhs.

Schließlich wird auch das Jahr des Hahnes vorübergehen. Dann kommt der Hund an die Reihe. Der steht für Treue. Und das Jahr des Hundes soll ruhig und stabil verlaufen. MARINA MAI