Ohne Not in Not

Zwei Frauen, drei Wohnungen, ein Roman: Wilhelm Genazino erzählt in „Die Liebesblödigkeit“ von einem professionellen Zivilisationsapokalyptiker und dessen Mühen mit der Liebe und dem Leben

Alles Unglück, alle Tragik, alle Mängel dienen ihm dazu, sich seiner Existenz versichern zu können

VON GERRIT BARTELS

So eine Konstellation kann selbst den psychisch robustesten Menschen aus der Bahn werfen, und einen Helden aus einem Wilhelm-Genazino-Roman erst recht: eine Liebe, zwei Frauen, drei Wohnungen. Gut möglich, dass dabei nicht bloß ein gehöriges Liebesdurcheinander entsteht, sondern gleich ein großes Lebensdurcheinander. Erstaunlicherweise hält aber der Held in Genazinos neuem Roman „Die Liebesblödigkeit“ große Stücke auf seine gleichzeitige Liebe zu zwei Frauen, zu einer 41-jährigen Sekretärin namens Sandra und einer 51-jährigen Klavierlehrerin namens Judith, zumal beide nichts voneinander wissen und die Lebensumstände aller Beteiligten dieser ménage à trois die Gefahr einer Entdeckung gering erscheinen lassen. Seine dauerhafte Liebe zu den beiden Frauen wirke doch, so Genazinos Ich-Erzähler, „wie eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt“.

Trotzdem glaubt er eines Tages, sich der Konvention beugen, Ordnung in sein Liebesleben bringen und eine ultimative Entscheidung für die eine oder andere herbeiführen zu müssen, und zwar aus einem genauso profanen wie schleichend bedrohlichen Grund: dem Alter. Er kommt zu der Einsicht „dass ich früher oder später nicht mehr die Wendigkeit, die Lust und vermutlich auch nicht mehr die Kraft zu einer Polygamie in drei Wohnungen haben werde“. So häufen sich in der Folge, da der 52 Jahre alte Erzähler sich an die schwierige Entscheidungsfindung macht, die oft verdächtig psychosomatisch anmutenden Zipperlein. Er entdeckt Krampfadern, bemerkt ein Zucken des Augenlides, sieht seinen Urin wahlweise bräunlich-rötlich oder schaumig-weiß aus seiner Harnröhre kommen und schlägt sich mit einem Exzem zwischen den Fingern herum. Und selbstverständlich stellen sich auch beim Sex Probleme ein: mal ein vorzeitiger Samenerguss, mal eine nachlassende Erektion, überhaupt „das Nahen einer Beinhahe-Impotenz“. So ist selbst der unspektakuläre, unsexy wirkende, aber interessant muffige Alltagssex dieses alles andere als makellosen Durchschnittsmannes mit seinen alles andere als makellosen Durchschnittsfrauen ein Quell wachsender Leiden.

Nun könnte man bei dieser Schilderung leicht auf den Gedanken kommen, Wilhelm Genazino habe mit „Die Liebesblödigkeit“ einen Roman über das Altern geschrieben, über die Malaisen des Alters. Und einen über die Liebe, über die Kraft der Liebe, über das Scheitern der Liebe und über den Versuch, die Liebe zu verstehen. Doch dem ist nur an der Oberfläche so. Denn die Liebe- und Altersproblematik bildet nur mehr das dramaturgische Gerüst eines für Genazino typischen Romans. „Die Liebesblödigkeit“ ist ein vom Umfang her schlanker, auf leisen Sohlen tretender, aber erkenntnisreicher und lebenskluger Roman geworden; ein Beglückungsroman mit allerlei Widerhaken genauso wie ein heiterer Trauerroman. Und in diesem findet sich der Held ohne wirkliche Not in immer den größten Nöten wieder, ja, er muss sich darin geradezu wiederfinden; er spielt sich in seinen nicht unbedingt schlechtesten Jahren gern als „Wiedergänger des Unglücks“ auf, hat aber, wie er weiß, nicht mehr Glück oder Unglück als andere Menschen in seinem Leben gehabt; und ihm macht es darüber hinaus immens viel Spaß, „die Analogien zwischen den Mängeln der Dinge und den Mängeln der Menschen fortlaufend zu beobachten“. Alles vermeintliche Unglück, alle eingebildete Tragik, alle echten Mängel dienen ihm dazu, sich seiner Existenz versichern zu können.

Passionierte Melancholie und passionierte, gedehnt-präzise Blicke, die Mythologie des Alltags und die Überhöhung dieses Alltags genauso wie das Scheitern an ihm, das alles bildet gewissermaßen das bekannte Wilhelm-Genazino-Programm. Dessen Wiederkehr im Übrigen all die beruhigen dürfte, die sich schon Sorgen gemacht hatten, Genazino würde sich mit dem frischen Georg-Büchner-Preis-Ruhm im Rücken und der verdächtig zeitnahen Veröffentlichung dieses Romans möglicherweise schwer verheben oder gar mit aller Macht einen Bestseller schreiben wollen.

Was man jedoch neu konstatieren kann: Die Melancholie ist bei Genazino um einige Töne dunkler geworden; und die Gesellschaftskritik ist um ein paar Lagen dicker aufgetragen und hie und da auch eine Idee verzweifelter geraten. Denn Genazinos Held, der irgendwann zu der Erkenntnis gelangt, seine Liebesverblödung bestehe im Kern aus einer „Sehnsucht nach etwas, das es nicht gibt“, dieser vorgebliche Liebesblödian ist von Beruf Apokalyptiker, Zivilisationsapokalyptiker, um genauer zu sein. Als solcher beschäftigt er sich mit Deformationen, „die unscheinbar in unser Leben eindringen und uns allmählich die Luft abdrücken“. Übermäßiger Fernsehkonsum oder übermäßiger Fastfoodkonsum, zu viel Entertainment und zu viel Konsum überhaupt. Das alles führe dazu, so der professionelle Zivilisationsapokalyptiker bei einem seiner Seminare in der Schweiz, dass da „ein neuer Faschismus“ auf uns zugerollt komme, ein Faschismus in einem eher unauffälligen Gewand, der aber nichtsdestotrotz nicht weniger gefährlich ist. Nicht zuletzt bestätigt sieht er sich da in seinem Umfeld, in dem er allerlei Menschen begegnet, die eben nicht mehr Angestellte, Arbeiter oder Ärzte sind, sondern Ekel-Referenten, Empörten-Beauftragte, Panik-Berater oder so genannte Postfeinde; alles Menschen, die sich mit diesen ungewöhnlichen Berufen und Obsessionen gegen die Zumutungen des Alltags wehren und sich ihre Lebensfähigkeit erhalten.

In ihrer Gesamtheit bescheren sie dem Roman eine dezent verhangene Düsternis, die der Erzähler zusätzlich auspinselt, in dem er ein paar seiner Erinnerungsräume öffnet und von der Enge seiner Herkunft berichtet. Wenn ihn etwa seine fensterputzende Nachbarin daran erinnert, dass ihm einst das Fensterputzen der Mutter als „Gipfel der Lebensleere“ erschien, inzwischen aber wie ein „kostbares Innehalten meiner rasenden Todesangstmaschine“; oder der Anblick eines alten Mannes das ewige Furzen des Vaters heraufbeschwört, das ihm zuerst als dessen „naiver Ausdruck seiner Aufopferung für die Familie“ erscheint, andererseits ein „wiederkehrendes Gefühl des Versagens“ beschert, da er seinerzeit nicht gegen den Vater vorgegangen ist. Viele Schuld- und Schamgefühle trägt dieser Mensch mit sich rum, aber auch sie sind Teil des lebensnotwendigen Selbsterkenntnisprogramms.

Nur gut, und da bekommt Genazino immer wieder die richtige Kurve, dass manche Düsternis der Gegenwart und der Vergangenheit auch mit viel Witz und Selbstironie belichtet wird. Ohne Umschweife outet sich der Erzähler als ein intellektueller Blender, der zwar locker darüber räsonnieren kann, dass Flaubert im Vergleich mit Proust viel zu unterbewertet sei, aber weder von dem einen noch von dem anderen hat er mehr als 200 Seiten gelesen; oder er unterdrückt nur mit Mühe ein Lachen, als ihm der Postfeind erzählt – kein Genazino-Roman ohne Kafka-Anekdote –, dass Kafka einst die Post ein Amt ohne Ehrgeiz genannt habe und dann selbst mit einem ungläubigen Lachen anfügt: „Das Zitat wird die Post fertig machen.“ Da geht noch was, denkt er sich dann, denkt sich auch der Leser dieses Buches, da gehört jede Obsession nicht nur zur Überlebensstrategie, sondern da stecken auch ausreichend Distanzmomente drin – Genazino und seine vielen anderen Helden mit ihrem Abarbeiten an der kleinbürgerlichen Vergangenheit und dem Wunsch nach einem Künstler- und Bohemeleben wissen davon genügend Lieder zu singen. Und so hütet sich der Erzähler wiederum davor, sich über Gebühr darüber lustig zu machen, dass seine Exfrau Bettina einst die Idee hatte, mit einem „Beischlafhäuschen“ Geld zu verdienen oder jetzt eben mit einer „Zeitungstauschzentrale“.

Im Angesicht des Todes ist alles nichts, lautet eine viel zitierte Sentenz von Thomas Bernhard, die Genazinos Apokalyptiker gewiss ebenfalls kennt. Nur ist dieser im Umgang damit bei weitem nicht so radikal. Ihm reicht es am Ende, unter gütiger Mithilfe des Panik-Experten gelernt zu haben, dass „durch das sanfte Hineingleiten in die Sterblichkeit die Frage, ob ich eine oder zwei Frauen liebe, belanglos geworden ist“. Und die Apokalypse? Sie steht nicht erst bevor, sie hat längst stattgefunden, zumindest die Apokalypse des Alltags – und Wilhelm Genazino erzählt uns immer wieder gern, dass es sich in ihr und mit ihr doch einigermaßen leben lässt.

Wilhelm Genazino: „Die Liebesblödigkeit“. Carl Hanser Verlag, München 2005, 203 Seiten, 17,90 €