Mandy und Ümit werfen Popcorn

Eisern schweigen die Verfrorenen: Der Karnevalsumzug in Berlin ist die fehlamplatzeste Veranstaltung der Welt

Die Sonne scheint. Aus der asiatischen Steppe fegt ein scharfer Ostwind ungehindert über den Gendarmenmarkt. Ein Wetterchen wie zu Stalins Geburtstag.

Vereinzelt warten Gehörlose mit versteinerten Mienen auf den Karnevalsumzug, wieder andere flüchten vor einer Stalinorgel, die am Konzerthaus unter infernalischem Heulen unablässig Salven technogeschwängerter Schlagermusik verschießt. Vor Angst bin ich jetzt schon wie gelähmt: Mir graut vor dieser neben der Love Parade in Pjöngjang und dem Erntedankfest in Nuuk (Grönland) fehlamplatzesten Veranstaltung der Welt. Bedenkenlos werden heute Zurückhaltung und Bescheidenheit, diese vornehmsten aller Tugenden, in einer hochgiftigen Mixtur aus katholischer Heuchelei und protestantischem Selbsthass ersäuft. Statt „Rheinländer raus“ heißt es „Hier tanzt der Bär“: Motto oder Drohung?

An der Charlottenstraße reihe ich mich bei den Frierenden ein. Schräg gegenüber warten Lutter und Wegner mit ihrer Schnöselplörre auf reiche Migräniker. Vor mir steht eine Frau mit blauen Haaren. Merkwürdig. In Kürze werden 111 Spaßeinheiten an uns vorüberziehen, Tanzgruppen, Musikanten und Tieflader voll grölender Besoffener. Die Spinner sind fast in der Überzahl: Eine Million Zuschauer? Da lachen doch die Hühner!

Es geht los: Vorneweg Grün-Weiß Berlin in drei Opels mit lustigen Blaulichtern – die BMWs sind wohl in der Werkstatt. Dann folgt Wagen auf Wagen. Mit bewährter Ausflugsdampferdebilität winken Schwachsinnige von oben herab ins Volk. Fast keiner winkt zurück. Die Zuschauer schweigen, eisern und verfroren. Irgendwie landen Bonbons auf der Straße. Ich kann mich nicht bücken. Kinder wuseln herum. Die Blauhaarige tanzt mit einem Clown. Dazwischen immer wieder Fußgruppen. Am meisten dauern mich die „Mariechen“ in ihren Röckchen. Die sollten sich mal in der Oranienburger abgucken, was winterfeste Berufsbekleidung ist. Nicht umsonst sind warme Tierkostüme der Renner, ebenso wie Pickelhauben – zum Wehrmachtshelm fehlt noch die Konsequenz. Alle zehn Wagen grüßt ein neues Prinzenpaar – das Rüdersdorfer Kinderprinzenpaar heißt Marwin II. und Sarah I.; Mandy XIII. und Ümit VI. bewerfen einen Rollstuhlfahrer, der sich ohne Nummer zwischen die Laster geschmuggelt hat, mit Popcorn. Auf dem Wagen der „KG Fidele Rixdorfer“ stehen mürrische Damen des Neuköllner Sozialamts und verteilen Bonbons in gewohnter Willkür.

Die Stimmung ist gedämpft. Oben wird gebrüllt – „Heijo“, ein eigens für die Berliner erfundener Ruf, denn „Alaaf“ und „Helau“ sind vergeben und „Sieg Heil“ ist verboten – unten wird bloß still gelitten und gewartet. Was ich da notiere, fragt ein Frau – die Antwort „Verfassungsschutz“ beruhigt sie wieder. Einmal kommt sogar Unmut auf: Die „Große Garde Erkner“ hat besonders kurze Röckchen. Halb erfroren schwingen die halbwüchsigen Psychopathenfantasien Fahne und Eisbein, werden dabei von einem Turnlehrer mit Trillerpfeife angepfiffen. Müde sehen sie aus, traurig und verzweifelt – wie rumänische Turnerinnen der Ceaușescu-Ära. Nicht nur mir tun sie Leid.

Wie es auch anders geht, einfacher und zugleich eleganter, zeigt der TSV Wittenau: Dicke Frau, kleiner Bollerwagen, Teddybär – fertig. Es folgen ein Gorilla mit Pickelhaube und die Falkenseer mit ihrem Plastikelefanten – „ausziehen“ kommentiert ein Betrunkener. „Wir fahren in den Har(t)z 4“, steht auf dem Wagen der „Roten Funken“. Witzig. Auf Wagen 100 der THW-Jugendgruppe Pankow müsste sich laut Vorankündigung Peggy Podanke befinden, Wagen 107 ist ein Schiff mit Deppen drauf und Wagen 111 dann endlich das wahre Berliner Prinzenpaar. Geschafft!

ULI HANNEMANN