„Es hilft nicht, mit dem Finger auf Migranteneltern zu zeigen“

Zuwanderer geben ihren Kindern nicht genug Bildungsehrgeiz mit, weiß Migrationsforscher Bruce Cohen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass der Staat deren Kids wirksam fördert

taz: Herr Cohen, hierzulande meinen viele, die türkische Community sei selbst an der miesen Ausbildung ihres Nachwuchses schuld: Wenn das Lernen zu Hause nicht gefördert werde, könne die Schule auch nichts machen.

Bruce Cohen: Es hilft nichts, mit dem Finger auf die Eltern zu zeigen. Viele Minderheiten-Familien geben ihren Kindern nicht genug Unterstützung und Ehrgeiz mit auf den Weg. Gerade deshalb ist es ja so wichtig, dass der Staat diese Kids konsequent fördert – wenn er eine mobile, gut ausgebildete Arbeiterschaft haben will. Deutschland hängt da im Vergleich mit Großbritannien Jahrzehnte hinterher.

Ist denn die Migrationsgeschichte der beiden Staaten überhaupt vergleichbar?

Wenn man etwa die Lage der pakistanischen Einwanderer in England mit der Situation der Türken in Deutschland vergleicht, so stellt man verblüffend viele Parallelen fest: Auch aus Pakistan kamen in den 1950er- und 60er-Jahren vor allem Menschen einfacher, bäuerlicher Herkunft – Muslime, die zunächst dachten, sie würden bald zurückkehren. Doch die „British Asians“ haben sehr viel mehr Bildungsaufsteiger hervorgebracht als die Türken. Schalten Sie BBC an, Sie werden viele Top-Journalisten asiatischer Herkunft sehen.

Die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht wird auch in Indien und Pakistan schon gesprochen.

Die Sprache ist zwar das wichtigste Integrations- und Bildungsinstrument. Aber angesichts dessen, wie schnell und gut Kinder Sprachen lernen können, kann das nicht das Argument sein. Nein, der britische Staat hat den Einwanderern gleich das Angebot gemacht, echte Bürger zu werden. Nur aus dem Gefühl heraus, ein vollwertiger Teil der Gesellschaft zu sein, entsteht auch in Familien die Haltung, dass es sich lohnt, bessere Noten aus der Schule nach Hause zu bringen. Integration ist eine Folge des Gefühls, dazuzugehören – da muss der Staat Angebote machen. Bloße Teilhabe an Sozialsystemen, wie bisher in Deutschland, reicht nicht.

Wie wollen Sie den Zusammenhang von Identifikation und Integration belegen?

Die pakistanischen Kinder in England antworten, nach ihren Bildungswünschen befragt, viel ehrgeiziger als die türkischen Kinder in Deutschland – sogar ehrgeiziger als ihre weißen Schulkameraden. 45 Prozent der Pakistani – und 30 Prozent der Weißen – wollen einmal auf die Hochschule. Zwar landen die Pakistani dann bei den Bildungsabschlüssen trotzdem hinter den englischstämmigen Schulabsolventen. Doch immerhin 23 Prozent schaffen es auch auf das College. Von den türkischstämmigen Schülern in Deutschland dagegen schaffen es weniger als 10 Prozent auf eine Hochschule. Natürlich spielen viele Faktoren eine Rolle: ein faires Schulsystem, multikulturelle Sensibilität, aber vor allem eben das Gefühl, ein wertvoller Bestandteil der Gesellschaft zu sein.

Spielt Religion eine Rolle bei der Bildungsintegration?

Das konnte ich bei meinen Befragungen kaum feststellen – jedenfalls bei den Türken in Deutschland nicht mehr als bei den Pakistani in England. Religion kann eine positive Rolle spielen. Zum Beispiel interpretieren junge muslimische Frauen in Bradford den Koran so, dass eine gute Ausbildung für sie persönlich und für ihre Community wichtig ist. Collegeabsolventinnen kehren dann als Sozialarbeiterinnen oder Ärztinnen zurück. So zeigen sie ihren Leuten, wie sehr Ausbildung sich lohnt.

In Großbritannien gibt es eine echte Popkultur der Integration – wie Erfolgsfilme wie „Just a Kiss“ beweisen. So etwas kann der Staat doch gar nicht.

Ja, an solchen Kulturprodukten sieht man, dass Integration und übrigens auch Multikultur auf allen Ebenen der Gesellschaft stattfinden – und wie quälend der Prozess sein kann. Wie dumm ist es von den deutschen Politikern angesichts der Tatsache, dass Europa auf den Zustrom von Immigranten angewiesen ist, ausgerechnet jetzt das Konzept „Multikulti“ zu denunzieren! Das Beispiel Großbritannien zeigt, dass es Konflikte gibt, sogar Straßenschlachten, aber dass es keine Alternative zu gemischten Identitäten gibt.

INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN