Geräumige Gebilde

In seiner DDR-Rückschau lud das Maxim Gorki Theater einen der radikalsten aller Dissidenten zur Lesung seiner kreisenden Texte: den Schriftsteller Gert Neumann

In einem sprudelnden Limonadenglas habe er den gesamten Sinnraum der DDR erkannt

Schwarze Wände, ein paar Stühle auf dem nackten Betonboden, ein Tisch. Am Rand sitzt das Publikum auf hohen schwarzen Holzstufen, und in den zwei hinteren Raumecken stehen graue Modelle trister Plattenbauten. So sieht der von Ulrike Siegrist gestaltete Bühnenraum aus, in dem Gert Neumann an diesem Abend zusammen mit der Schauspielerin Monika Lennartz aus seinen Romanen liest.

Wir sitzen im Studio des Maxim Gorki Theaters, wo derzeit täglich unter dem Motto „Glaube II: und der Zukunft zugewandt. 40 Jahre DDR in Texten, Veranstaltungen und Kommentaren“ in der Geschichte der deutschen Teilung zurückgeblättert wird. Jeden Tag um ein Jahr.

Heute ist der „radikalste aller Dissidenten“ (Iris Radisch) an der Reihe, uns von 1979 zu erzählen. Zusammen mit Lennartz und dem Baritonsaxofonisten Hinrich Beermanns kommt er in ein „lesendes Gespräch über das Gewesene“, wie das Faltprogramm des Abends etwas raunend verspricht.

Bedächtig setzt sich Neumann an seinen Platz, ein älterer Mann, der seine Handflächen immer wieder sanft und tastend auf die Tischplatte sinken lässt – ganz so, als sei die beschwörende Geste Teil einer Meditation über die eigene Biografie. Den Kopf wiegt er sanft im Rhythmus der gelesenen Texte, die meist von politischen Konflikten handeln, die Neumann mit der DDR-Bürokratie erlebte.

Die Lesung wird sporadisch von Hinrichs hupendem Saxofon unterbrochen. Eine hübsche Idee nicht zuletzt deshalb, weil Neumanns Texte etwas Trockenes an sich haben. Von Satzbauten wie „reinen Seelenarchitekturen“, schwärmte Martin Walser 1999, als er Gert Neumanns „Wende“-Roman „Anschlag“ in der Zeit rezensierte, aus dem auch an diesem Abend einiges rezitiert wird: „Es sind geräumige, nicht mit einem Blick überschaubare Gebilde, die er baut. Schönheit, die sich durch die Schwierigkeit erschließt, die sie dem Genießenden bereitet.“

Natürlich ist das Unsinn. Zumindest die Passagen, die Neumann und Lennartz an diesem Abend vorlesen, erscheinen nur manchmal als etwas zu lang geratene Gedankenspiralen. Schwer zu verstehen sind sie dabei trotzdem nicht. Wohl auch deshalb, weil sie gut vorgelesen werden. Dabei stellt man zudem erleichtert fest, dass Neumanns laut rezitierte Sprache gar nicht so sehr von jener diffusen deutschen Innerlichkeit erfüllt erscheint, wie sie Walser in ihr mit geradezu emphatischer Begeisterung als „Neumanns Lebensstoff beziehungsweise Lebensthema“ erkannt haben wollte: „Und das heißt: Geschichte. Deutsche Geschichte also.“

Das gilt besonders für den ältesten gelesenen Text, „Elf Uhr“, den Neumann 1977–78 zu seiner Haushandwerkerszeit im Leipziger Kaufhaus „Konsument“ schrieb. Die Formulierungen kreisen hier um die prekäre Verlagskorrespondenz zur geplanten Veröffentlichung seines Manuskripts „Die Schuld der Worte“, das dem Theaterabend seinen Titel gibt und schließlich 1979 nur im Westen, bei Suhrkamp, erscheinen konnte. In einem sprudelnden Limonadenglas habe der Erzähler „den gesamten Sinnraum der DDR“ erkannt, heißt es da an einer Stelle. Und das ist nicht mal unwitzig.

JAN SÜSELBECK