Der Platz ist der Star

Heute beginnt die 55. Berlinale: Der Potsdamer Platz verwandelt sich dafür in eine einzige Kulisse für den Film, seine Stars und die Cineasten. Er ist der ideale Ort für das Spektakel und das Geschäft mit dem schönen Schein

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Seit heute ist selbst der Weg vom Bahnhof Zoologischer Garten oder von Tegel in die Stadtmitte, genauer gesagt zum Potsdamer Platz, nicht mehr von der typischen Berliner Winter-Tristesse geprägt. Seit heute empfangen die Besucher der Stadt die bunten Motive der 55. Berlinale. Sie flattern als Berlinale-Bären auf Fahnen im Wind. Sie hängen als Plakate und Prospekte mit blauen Monden und gelben Sonnen an den großen illuminierten Kinopalästen, in den Straßen, über den Fußgängerwegen. Und sie stehen als Skulpturen und als Werbetafeln im grünen modernistischen Design vor dem Berlinale-Palast sowie den Multiplex-Kinos am Potsdamer Platz.

Die Berlinale-Motive sind nur ein Indiz für die Verwandlung eines ganzen Quartiers für zehn Tage Filmfest. Es gibt darüber hinaus Ansichten wie die von Berlinale-Chef Dieter Kosslick, laut denen die ganze Stadt zur Filmkulisse werde, zum inszenierten Hintergrund für die Stars, das Programm und für das ganze verrückte Drumherum des Festivals. Kosslick: „Berlin hat die Fantasie zahlloser Filmemacher beschäftigt. Immer wieder diente die Stadt als Kulisse großer Leinwandszenarien, und nicht selten avancierte sie zur heimlichen Protagonistin. Und für zwei Wochen im Jahr ist Berlin ganz auf die Berlinale eingestellt.“ Von Kopf bis Fuß, versteht sich. It’s showtime, folks!

Der Berliner Stadtsoziologe Werner Seving bezeichnete den Potsdamer Platz einmal als Gegenbild traditioneller Urbanität. Auf dem einstigen Niemandsland zwischen Ost und West sei ein von Großkonzernen errichtetes künstliches Gebilde aus Häusern, Straßen und Plätzen für Büros, Wohnungen und Geschäfte entstanden. Die bauliche Form samt semiöffentlicher Funktionen des Potsdamer Platzes habe in erster Linie die Aufgabe, das Image, die ökonomische Rendite und die Corporate Identity der Konzerne zu spiegeln, wenn nicht gar zu steigern. Wer darum auf den Potsdamer Platz gehe, befinde sich inmitten eines architektonischen Spektakels, eines städtebaulich-kommerziellen Ereignisses. Seving: „Der Potsdamer Platz ist der moderne Ort für das Event.“

Die Festivalisierung und Inszenierung der Stadt durch das jährlich größte Kulturereignis Berlins, die Berlinale, trifft so gesehen am Potsdamer Platz auf genau den rechten Hintergrund: Hochhäuser wie aus künstlich geschaffenen Welten, Straßen und Plätze so entworfen wie für das Studio-Filmset, und mittendrin Hotels, Bars, Kinos und Laufstege als Treffpunkte wie aus dem Drehbuch.

Es tut diesem Szenario keinen Abbruch, dass der Platz wie die gesamte Stadt an den realen Problemen derzeit schwer zu knapsen hat. Ganze Neubaukomplexe dort stehen leer. Büroräume werden wie sauer Bier angeboten, und es „brummt“ vor Ort noch immer nicht wie zu den mythisch aufgeladenen Zeiten. Vielmehr scheint es so, als funktionierten in diesem Raum die Verwandlung, der Glamour und die Gesetze des Films umso besser – alles wird Show.

„Berlin ist so lovely“, sagten gestern schon filmreif die Schauspieler Goldie Hawn und Kurt Russell. Das sollte keineswegs als Bemerkung nach einer Sightseeing-Tour zu verstehen sein, sondern als Bonmot nach dem Blick aus ihrem Hotel und einem Gang über den Potsdamer Platz. Und die weiteren Protagonisten der Berlinale – Jerry Lewis, Joan Collins, Catherine Deneuve, Bruce Willis, Dustin Hoffman, Joseph Fiennes, Kevin Spacey, Kristin Scott-Thomas, Glenn Close und Ridley Scott – werden ähnlich tolle Sätze und Dialoge absondern, wenn sie aus den vorfahrenden VW-Limousinen aussteigen, über den roten Teppich im Blitzlichtgewitter der Fans und Fotografen spazieren, auf den Pressekonferenzen lächeln.

Der Potsdamer Platz bildet nicht nur den Rahmen für Berlinale-Stars und Filmgeschichten, es wird dort natürlich auch Kino gezeigt. Und das superlativ. Über 350 Streifen präsentiert Kosslick hier in den Kinos Cinemaxx und Cinestar: Großes internationales Kino im „Wettbewerb“ – darunter die deutschen Beiträge von Hannes Stöhr „One Day in Europe“ und Marc Rothemunds „Sophie Scholl“ –, Independent und Arthouse im Panorama, Kino für junges Publikum im Kinderfilmfest und dem „Programm 14 plus“, „entfernte“ Filmländer und experimentelle Formen im „Internationalen Forum des Jungen Films“. Ergänzt wird das Programm durch eine Retrospektive über – Filmdesign und Kulissen! Eine Hommage an den Potsdamer Platz, in dessen leere Büroetagen Film- und Produktionsfirmen für die Berlinale-Zeit eingezogen sind.

Als die Berlinale vor Jahren vom Kurfürstendamm an den Potsdamer Platz zog, wurde man als Kinobesucher das Gefühl nicht los, nach dem Abspann auf der Leinwand drinnen ginge Hollywood draußen einfach weiter. Das Neuartige des Ortes und die Inszenierung der Architekturen durch Laser, der erleuchtete Filmpalast und das Ambiente des Marlene-Dietrich-Runds machten aus den Filmfans in gewisser Weise Filmschauspieler. Ungeniert trug man auch nachts Sonnenbrillen und schicke Klamotten, zog lange an den Fluppen und war total cool – wie im Film halt.

Heute wird den rund 150.000 Cineasten aus rund 80 Ländern rund um den Berlinale-Palast nicht weniger, sondern noch mehr geboten. Der Potsdamer Platz ist größer geworden: Es gibt noch mehr Kulissen, noch mehr Show und natürlich noch mehr Sex in the City. „Sex ist immer wieder ein gutes Filmthema“, sagt Kosslick, und: „Filme wie das Biopic ,Kinsey‘ und der Dokumentarfilm ,Inside Deep Throat‘ im Programm des Panorama zeigen noch einmal die verklemmte Sexualität der 50er- und 60er-Jahre und ihre rücksichtslose Ausbeutung durch die Profiteure.“

Was der Festivalleiter auch meint, ist, dass neben dem Charme der nächtlichen Partys und DJ-Auftritte im „Adagio“ und anderen Clubs und dem Tanz mit den Filmstars es um etwas ganz Banales, das Geschäft, geht – doch auch dafür steht der Potsdamer Platz. Neben den sicherlich wichtigsten Sektionen Wettbewerb und Panorama bildet die in die Berlinale integrierte Filmmesse „European Film Market“ (EFM) die Hauptplattform für die Produzenten. 2004 waren 120 Firmen aus rund 35 Ländern vertreten. In 650 Vorführungen wurden annähernd 500 Filme dem Fachpublikum präsentiert. In diesem Jahr wird die Filmmesse erneut alle Rekorde brechen, Kommerz pur ist auf dem Festival angesagt. Durch die Anbindung an eines der größten Filmfestivals in der Welt, sagt European-Film-Leiter Beki Probst, biete der European Film Market eine ausgezeichnete Infrastruktur für das Film-Business: die Präsentation und Sichtung von Filmen, Promotion, Kauf und Verkauf.

Seien wir ehrlich: Film ist schön, ist eine Kunst und Magie dazu. Aber hinter den Fassaden des Potsdamer Platzes, in seinen Räumen und Zimmern, an den Schreibtischen und in den berühmten Betten wird Kino gemacht.

All das hat in dieser Kulisse zehn Tage Raum.