schwabinger krawall: fliegende marmeladengläser von MICHAEL SAILER
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Das, sagt Herr Hammler und stellt ein Glas mit der Aufschrift „Erdbeeren 1992“ auf den Küchentisch, könne man nicht mehr essen. Schimmel mache Marmelade nicht nur ungenießbar, sondern geradezu giftig. Das sei ein Schmarren, sagt seine Frau, man müsse nur die obere Schicht entfernen, dann sei die Marmelade pfenniggut. Auf einer jeden Marmelade wachse Schimmel, das sei schon immer so und noch nie giftig gewesen, sonst wären sie und er selber längst nicht mehr am Leben. Im Übrigen wüchsen auf seinem Kopf auch Haare, und er sei manchmal viel ungenießbarer als irgendwas Angeschimmeltes.

Sie ignoriere die Erkenntnisse der modernen Ernährungswissenschaft, sagt Herr Hammler, und er wolle keinen alten Gammel essen, auf gar keinen Fall, sondern etwas Frisches, gerade im Winter, wo der Körper schlimmsten Anfechtungen ausgesetzt sei und eine lange angekündigte Grippewelle demnächst für ein Massensterben sorgen werde.

Dann solle er dicke Socken und einen Schal anziehen, bescheidet ihn seine Frau. Mit einem Katarrh habe der Schimmel auf der Marmelade nicht das Geringste zu tun, und wenn er etwas Frisches wolle, könne er gern durch den Tiefschnee zum Elisabethmarkt stapfen und sich eine Orange kaufen.

Herr Hammler ist aber nicht zu beruhigen. Obst, sagt er, werde heutzutage, nachdem man es mit einer fingerdicken Schicht aus Gift und Dreck überzogen habe, grün und somit vollkommen vitaminfrei vom Baum gerissen und durch die ganze Welt gekarrt, um im Lastwagen künstlich zu reifen. Solches Zeug könne man prinzipiell nicht essen. Zum Beleg beißt er in einen der krapplackroten Äpfel, die vom Christbaumbehang übrig geblieben sind, und stellt fest, das Ding schmecke unter seiner proper anmutenden Glanzschale eindeutig nach Schimmel, sei also ebenfalls giftig. Weil seine Frau kein Zeichen von Einverständnis zeigt, sondern sich kopfschüttelnd wieder auf ihren Roman konzentriert und dabei auch noch irgendwie belustigt wirkt, platzt Herrn Hammler der Kragen. Er reißt das Küchenfenster auf, wirft den Apfel hinaus, packt das Marmeladenglas und schüttet seinen Inhalt hinterher, holt vier weitere Gläser aus dem Schrank (Apfelgelee, Heidel-, Him- und Brombeere), entleert sie ebenfalls in die Öffentlichkeit, stößt endlich ein triumphierendes „So!“ aus und erklärt, er werde nun ins Wirtshaus gehen und einen Schweinsbraten essen, denn das sei wenigstens „etwas Reelles“.

Im Treppenhaus begegnet er der alten Frau Reibeis, die ihm völlig aufgelöst berichtet, sie sei beim Holzmachen im Hof mit gut vier Pfund Marmelade überschüttet worden, und sie wisse zwar, dass diese jungen Leute mit den Computern lärmempfindlich seien, aber da könne man doch wenigstens erst einmal etwas sagen, und sie verstehe die Welt nicht mehr.

Unverständlich bleibt ihr auch, wieso der sonst so brummelige Herr Hammler ihr nicht nur bereitwillig das Holz in den vierten Stock trägt, sondern zudem beim Auswaschen der Flecken behilflich ist, dabei die ganze Zeit kein Wort sagt und am Ende zum Dank weder die Steige Äpfel noch das Glas Preiselbeeren annehmen möchte.