Der „Eva-Infarkt“

Entgegen der weit verbreiteten Meinung sterben mehr Frauen als Männer an einem Herzinfarkt. Auch viele Mediziner erkennen nicht die speziell weiblichen Symptome eines akuten Infarkts

VON STEPHANUS PARMANN

Gott schuf zuerst den Mann und aus seiner Rippe die Frau. So will es die biblische Überlieferung. Zu anderen Ergebnissen kam vor Jahren die Genetik. Bruce Lahn und David Page von der Universität Chicago entdeckten, dass das weibliche X-Chromosom älter ist als das männliche Y-Chromosom. Evas Rippe war also zuerst da. Weniger bekannt ist jedoch, dass Frauenherzen anders schlagen. Mehr noch: Sie nehmen viele Krankheiten ganz anders wahr als Männer. Die Bibel wird wohl nicht umgeschrieben werden, aber die Krankheitslehre in der Medizin.

Bis in die Neunzigerjahre hinein war der Mann in der Medizin das Maß aller Dinge. Allmählich aber entdecken Wissenschaftler, dass Frauen bei bestimmten Krankheiten ganz andere Symptome aufweisen als Männer. So erleben ein Fünftel aller Frauen, die eine Herzattacke erleiden, ganz andere als die klassischen Symptome. Statt eines heftigen Drucks im Brustkorb und starkem Engegefühl verspüren die meisten Frauen bei Herzinfarkt Schmerzen im Oberbauch oder im Rücken, begleitet von Kurzatmigkeit, Schweißausbrüchen, Übelkeit und Erbrechen.

Weil die frauenspezifischen Symptome des Herzinfarkts dem medizinischen Fachpersonal nicht bekannt sind, werden Herzinfarkt gefährdete Frauen häufig in der Notaufnahme mit Beruhigungsmitteln versorgt. Die Symptome werden als Panikattacke missdeutet, schreibt Marianne Legato, eine der Pionierinnen auf dem Gebiet der geschlechtsspezifischen Medizin, in ihrem Buch „Evas Rippe“.

Während sich Frauen darum sorgen, an Brustkrebs zu sterben, liegt der prozentuale Anteil von Herzkreislauferkrankungen an der Gesamtsterblichkeit laut Angaben des Statistischen Bundesamts mit 49,3 Prozent bei Frauen wesentlich höher als bei Männern (38,1 Prozent). Zwar erleiden eher Männer als Frauen einen Herzinfarkt, doch nur 9 von 100 betroffenen Männern sterben daran, bei den Frauen sind es 18 Prozent.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Bekannt ist, dass weibliche Infarktpatienten mehr Risikofaktoren und Vorerkrankungen aufweisen. Die Infarktwahrscheinlichkeit ist bei Frauen so hoch, weil sie häufiger unter Bluthochdruck, Übergewicht und Diabetes leiden. Schwere Schädigungen der Herzkranzgefäße bei jungen Frauen unter 40 treten nahezu ausschließlich bei Raucherinnen auf.

Es trifft aber nicht nur ältere Frauen. Auch bei jüngeren Frauen ist die Sterblichkeit im Vergleich zu Männern höher. Ein Phänomen, das sich die Forschung noch nicht erklären kann. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass jüngere Frauen wegen der Mehrdeutigkeit des „Eva-Infarkts“, wie ihn Experten nennen, zu spät oder gar nicht in die Klinik kommen. Mit fatalen Konsequenzen: Oft werden die Symptome vom medizinischen Fachpersonal „schlicht nicht richtig gedeutet“, meint Brita Larenz, Ärztin für Ernährungsmedizin und Mitbegründerin der Ende Oktober vergangenen Jahres gegründeten „Initiative Frauenherz“, einem Zusammenschluss aus Kardiologen, Hausärzten, Sport und Ernährungsmedizinern. „Dadurch werden kostbare Minuten vergeudet, wertvolle Zeit, die über Leben und Tod entscheidet, geht dadurch verloren“, sagt Larenz.

Nahe legt das auch eine Studie aus Nordrhein-Westfalen, die im Auftrag der Enquetekommission „Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in NRW“ von Susanne Sottong durchgeführt wurde. Der Verdacht, dass medizinisches Personal nicht ausreichend für die frauenspezifische Symptomatik bei Herzerkrankungen ausgebildet ist, wird laut Studie von vielen Experten bestätigt.

Statt eines akuten Herzinfarktrisikos wurden die Symptome „eher als Atembeschwerden oder Probleme der Gallenblase interpretiert“. Dass junge Frauen einen Herzinfarkt erleiden könnten, scheint weder den Frauen selbst noch dem medizinischen Personal ausreichend bewusst zu sein. Studien aus den USA und den Niederlanden kommen zu ähnlichen Ergebnissen.

Schon der Frauengesundheitsbericht für Deutschland 1999 berichtete von Schwächen in der Diagnosestellung: „Frauen sind für derartige Unterschätzungen eher prädestiniert als Männer, da sie oder anwesende Personen nicht mit der als männertypisch geltenden Krankheit rechnen und sie die bei Frauen häufigen Symptome von schlagartiger Übelkeit mit und ohne Erbrechen und/oder ziehende/stechende Schmerzen zwischen den Schulterblättern nicht mit einem Herzinfarkt in Verbindung bringen. Hier besteht ein unbedingter Aufklärungsbedarf in der Bevölkerung.“

Fünf Jahre später hat sich wenig geändert. Und so muss auch im Neuen Jahr die Wunschliste der zur NRW-Studie befragten Experten neu aufgelegt werden. Neben öffentlichkeitswirksamen Kampagnen wie beim „7. Sinn“ forderten sie genderspezifische Ausbildungs- und Weiterbildungsprogramme beim medizinischen Personal, bis hin zum Apotheker. Notwendig seien zudem großdimensionale Expertisen zur Gender-Medizin, Präventionskonzepte und die Entwicklung besonderer Diagnosekriterien für die Koronare Herzkrankheit (KHK). Das „individuelle Profil der Patienten – Männer und Frauen“ – müsse stärker berücksichtigt werden, forderte Herbert Schuster, Genetiker und Professor für Innere Medizin an der Humboldt Universität Berlin, in einem Vortrag zur Gender-Medizin im November vergangenen Jahres. Denn auch gegenwärtig werde der Herzinfarkt als typische Männerkrankheit angesehen, so Schuster.

Das bestätigt auch eine aktuelle Umfrage des Emnid-Instituts, die im Auftrag der „Initiative Frauenherz“ bei 531 Frauen zwischen 45 und 75 Jahren durchgeführt wurde. So betrachten 61 Prozent der Befragten den Herzinfarkt als typisch männliches Problem und wissen nicht, dass Frauen häufiger daran sterben als Männer. „Vier von fünf Frauen gehen davon aus, dass sie die gleichen oder sogar bessere Chancen haben, einen Infarkt zu überstehen“, sagt Professor Bernd Tischer vom Emnid-Institut in Pullach.

Auch das ist ein Irrtum: Tatsächlich sind ihre Überlebenschancen deutlich geringer. Die Mehrzahl der Frauen geht immer noch davon aus, die Infarktanzeichen seien Engegefühl in der Brust und ausstrahlende Schmerzen in den linken Arm. Lediglich 2 Prozent der Befragten wissen, dass Frauen besondere Risiken für eine Herzkreislauferkrankung haben. Langfristig werde sich das ändern, meint Larenz und begründet ihre Hoffnung mit dem spürbar ansteigenden Interesse der Medizinberufe für die Gender-Forschung.