„Es drängt alles zum Ende“

Durchhalteparolen verfingen 1943 bei vielen nicht mehr, der Zusammenhang zwischen Bomben und NS-Regime war klar. taz-Serie Teil I: Bombenkrieg

Von MARTIN RÜTHER

„Das ist doch kein Krieg mehr. Die rotten ja tatsächlich die Menschen aus“, schrieb Anna S. Anfang April 1943 nach drei schweren Angriffen auf Köln an ihren Sohn Rudolf in Holland. Der sich hier artikulierende Schrecken saß umso tiefer, als es in Köln seit dem „1.000-Bomber-Angriff“ vom 31. Mai 1942 eine lange Phase relativer Ruhe gegeben hatte, die nun zu Ende war.

Der Luftkrieg der Jahre 1940 bis 1945 wurde in den letzten Jahren kontrovers diskutiert. Ein wesentlicher Auslöser der Auseinandersetzung war das 2002 erschienene Buch „Der Brand“ von Jörg Friedrich, in dem er auf fragwürdiger Quellengrundlage, einseitig und in emotionalem Duktus ein vorgeblich objektives Bild von den Leiden der deutschen Zivilbevölkerung zu zeichnen vorgibt. Dabei schreckt der Autor nicht davor zurück, sich an die Terminologie des Holocaust anzulehnen.

Mit einer solchen Haltung stieß er auf breite Zustimmung. Und das führte dazu, dass der Bombenkrieg dadurch eine sehr undifferenzierte und überaus besorgniserregende Umdeutung erfuhr. Erinnert sei hier nur an die jüngsten Ereignisse im sächsischen Landtag, wo die NPD von „Bomben-Holocaust“ und „Völkermord“ sprach.

Was bricht sich hier Bahn? Sind die Auswirkungen der Luftangriffe auf deutsche Städte tatsächlich, wie von Friedrich behauptet, über Jahrzehnte totgeschwiegen worden? Das muss gerade mit Blick auf Köln verneint werden, denn es liegt eine Fülle von Studien vor, in denen auch die Lebensumstände der Bevölkerung aufgearbeitet wurden.

Bei der Vorbereitung einer in Kürze erscheinenden Publikation zum Thema konnten erstmalig in großem Umfang private Quellen herangezogen werden, die Kölnerinnen und Kölner zur Verfügung stellten. Es handelt sich um Briefe und Tagebücher, die einen von offiziellen Schriftstücken oft abweichenden Blickwinkel auf den Alltag des Bombenkrieges eröffnen. Schon eine erste Analyse des neuen Quellenmaterials macht deutlich, dass viele jener Menschen, die zwischen 1940 und 1945 in Köln lebten, bereits damals in der Lage waren, ihre Erfahrungen und Einschätzungen weitaus differenzierter zu artikulieren, als es etwa Jörg Friedrich gelingen will.

Insbesondere waren sie offenbar in der Lage, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht nur zu erkennen, sondern auch zu akzeptieren, wobei in den ersten Kriegsjahren dem auch propagandistisch geschürten Motiv der „Vergeltung“ noch erhebliche Bedeutung zukam. Als im Mai und Juni 1940 die ersten Bomben auf Köln fielen, echauffierte sich etwa Christa L. noch über die „feige Saubande von Engländern“ und drohte „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Auch die eingangs zitierte Anna S. sah in den Briten die kriegstreibenden „Lumpen“ und äußerte die Hoffnung, dass es jenen nach dem Sieg über Frankreich nun „dran“ gehe. „Wir können uns in etwa vorstellen, was England blüht in Bezug auf Luftangriffe, natürlich wird unsere Luftwaffe ganz anders vorgehen.“

Dass sich die erhofften Erfolge bei der Bombardierung englischer Städte nicht einstellten, realisierte die Bevölkerung trotz aller propagandistischer Bemühungen schnell. Bereits vor dem „1.000-Bomber-Angriff“ schrieb die sichtlich desillusionierte Anna S. nach einem Angriff am 28. April 1942, er sei wohl die Antwort auf eine Rede Hitlers gewesen. Und: „Das geht bis zur völligen Vernichtung weiter.“

Endzeitstimmung

Es fällt bei fast allen verfügbaren Quellen aus privater Hand auf, welch große Aufmerksamkeit einem solchen häufig unterstellten Ursache-Wirkungs-Prinzip geschenkt wurde. Ob es sich um Reden von Hitler und Goebbels oder um Ereignisse auf Kriegsschauplätzen handelte – spätestens seit 1943 wurden damit Ängste vor unmittelbar drohenden Angriffen geschürt.

Ohnehin belegen die privaten Quellen für 1943 einen deutlichen Wandel in der Einstellung der Kölner Bevölkerung. Entgegen der offiziellen Propagierung des „Totalen Krieges“ verschwanden Begriffe wie „Endsieg“ fast völlig aus den Briefen. Stattdessen legte sich „Stalingrad“ wie ein schwerer Schleier auf das öffentliche Bewusstsein: „Alle Welt spricht nur noch davon“. Mitte des Jahres verdüsterte sich das Bild weiter. „Es drängt alles zum Ende“, schrieb Rosalie S. Anfang September, „und was jetzt geschieht in Italien, Dänemark, Schweden oder sonst wo, und nicht zuletzt in Russland und in der Heimat, das scheint mir wie tanzende kleine Steinchen, die langsam sich regen und schließlich den großen, verheerenden Steinschlag auslösen.“

Der, das wurde den meisten Kölner spätestens nach der schweren Angriffserie Ende Juni/Anfang Juli 1943 klar, war nicht mehr aufzuhalten. Es kursierte ein Witz, der Endzeitstimmung signalisierte: „Weißt Du, was feige ist? Feige ist, wenn sich einer aus Köln freiwillig zur Ostfront meldet.“ Die Hoffnung schwand, das Schicksal erschien unausweichlich: „Mit einem Gegenschlag rechnen wir hier nicht mehr. Wir sind überzeugt, dass der Krieg noch in diesem Jahr zu Ende sein wird“, schrieb jene Christa L., die 1940 noch ein „Auge um Auge“ beschworen hatte.

Leben in der „Parallelwelt“

Sämtliche Briefe und Tagebücher sind nun – das gilt bis zum Kriegsende – voll mit Schilderungen von Angriffen und deren Auswirkungen. „Die Nerven sind restlos kaputt.“ Überraschender Weise aber finden sich kaum Beschimpfungen der Bomben werfenden Gegner. Der Luftkrieg wurde vielmehr – folgerichtig – zumeist dem NS-Regime angelastet. „Am besten sagt man hier nicht mehr Heil Hitler!, sonst kannst Du unter Umständen damit rechnen, eine Ohrfeige zu bekommen.“ Gleichzeitig wurde der NS-Propaganda immer weniger Glauben geschenkt. Die Kölner, so schrieb Rosalie S. Anfang August 1943, seien angesichts der Belastungen in „Krawallstimmung“, die sich in „wüstem Geschimpfe“ und Schlägereien äußere. Mehr und mehr dominierte der Wunsch nach einem Ende des Schreckens.

Solch kritische Einschätzungen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das öffentliche Leben selbst nach schwersten Zerstörungen weiterhin funktionierte. Ein großer Bevölkerungsteil wünschte zwar das Kriegsende herbei, viele selbst um den Preis einer Niederlage, aber dafür einzutreten, das schaffte angesichts der Drohkulisse aus Gestapo und Sondergerichten kaum jemand. „Jedes freie Wort und freimütige Kritik“, so schrieb Anfang September 1943 ein Kölner seinem Sohn an die Ostfront, werde „von Spitzeln natürlich als Defätismus ausgelegt, und da kann der überzeugteste Patriot an die Wand kommen, ohne dass er weiß wie.“

Nahezu alle hier zitierten Menschen schufen sich eine Art „Parallelwelt“, um psychisch überleben zu können. Ob Garten, Kino, Musik oder schlicht ein ausgiebiges Bad – fast jeder suchte nach Strategien, dem Alltag zumindest kurzfristig zu entfliehen. So schrieb Rosalie S. 1943 vom „Sommeridyll“: „An diesen stillheißen Tagen ist einem der Krieg zuweilen unfassbar und die nächtliche Bunkerfahrt rückt in nebelhafte Ferne, bis plötzlich die Sirene wieder einmal ertönt. Nie habe ich so bewusst die Schönheit aller Dinge, ich möchte fast sagen, jeden Grashalm gesehen, wie in den letzten Monaten, da so abscheuliche Verwüstung droht. Ich glaube, man lebt intensiver, wenn man täglich den Tod vor Augen hat.“

Todessehnsucht

Und der war stets präsent. Viele schlossen mit dem Leben ab, und eine diffuse Todessehnsucht wurde angesichts der Belastungen bei nicht wenigen zur Grundeinstellung. „Geht man hinaus, so blickt man nur auf Trümmer und riecht Brand und allerlei“, vertraute im April 1944 die 18jährige Kölnerin Eva S. ihrem Tagebuch an. „Wenn man nicht den Glauben an ein baldiges Kriegsende hätte wie auf einen Sonnenstrahl nach Regentagen“, so fuhr sie mit Blick auf ihren 1943 an der Front gefallenen Vetter fort, „dann wünschte ich auch schon oft, so weit zu sein wie Georg.“ Mitte Oktober 1944 schrieb sie dann nach einem schweren Angriff: „Wann wird uns endlich ein schmerzloser Tod erlösen?!“

Wenn schon nicht das eigene Leben, so verloren viele ihren Partner, ihre Eltern oder Kinder. Hinzu kam die Sorge um die Angehörigen an den sich auflösenden Fronten. Bei all dem aber waren die Betroffenen durchaus in der Lage, differenzierte Schuldzuweisungen vorzunehmen. Wüste Beschimpfungen der Kriegsgegner, wie sie, getragen von der Siegeseuphorie, zu Kriegsbeginn zu vernehmen waren, verstummten trotz immer schwererer Bombardements zunehmend. Und es waren nicht selten Jugendliche, die eine eher abgeklärte Sicht an den Tag legten. Ihm tue, so schrieb etwa der gerade 17jährige Luftwaffenhelfer Karl H. nach schweren Angriffen Ende Oktober 1944 an seine Eltern, die Kölner Zivilbevölkerung leid. „Der Krieg sollte zu Ende sein. Mit Goebbels Phrasen gewinnen wir ihn nicht. Da ist die Sprache des Amerikaners schon etwas deutlicher.“

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am NS-Dokumentationszentrum. Von ihm erscheint in Kürze eine ausführliche Darstellung und Quellensammlung zur Geschichte des Bombenkrieges in Köln. Die Ausstellung „Zwischen den Fronten. Kölner Kriegserfahrungen 1939-1945“ im EL-DE-Haus geht vom 8. März bis 20. November 2005