»Ich habe heute noch keine Zeitungen gelesen«

Eine historische Miniatur zur Philosophie der Tageszeitung

Von Klaus Briegleb

Wenn es nach Heinrich Heine ginge, stünde alle journalistische Arbeit heute in einer Tradition, die er für die wenig freie deutsche Presse seiner Epoche selber gern begründet hätte, nämlich »alle Fakta der Zeit nicht bloß zur schnellsten Kenntnis des Publikums zu bringen, sondern sie auch vollständig gleichsam wie in einem Weltarchiv einzuregistrieren«.

Denn man muß wissen, daß dieser große Journalist und Flaneur im Pariser Exil die Last des gedachten Weltallgemeinen im Kopfe trug. Hegel hat sie ihm dort hineingelegt, als Heine in Berlin bei ihm studierte. Die Enzyklopädie des Wissens! Der Weltgeist! Das Bewußtsein der Notwendigkeit! Die Völker, die auf den Schauplatz der Geschichte treten, sich schlagen – und geschlagen verschwinden! »Sehen Sie, in der Weltgeschichte hat jeder Recht, sowohl der Hammer als der Amboß.«

Das klingt nach Indifferenz und ist, philosophisch abgehört, auch so gemeint. Wie ernst können wir das nehmen? Gehört es denn in die Geschichte der Kämpfe um die Freiheit der Presse – daß sie keine Partei nehmen solle? Wenn es nach Heinrich Heine ginge, gehörte der Zielort »Weltarchiv« in die Perspektive der freien Presse als Gattung – nicht einer Presse als des hinfälligen Organs einer Partei in den flüchtigen Gewaltverhältnissen der Zeiten. Hier hören wir die hegelsche Prinzipiensprache. In der Praxis klingt sie so:

»Paris, 19. April 1832.

Nicht den Werkstätten der Parteien will ich ihren banalen Maßstab entborgen, um Menschen und Dinge damit zu messen, noch viel weniger will ich Wert und Größe derselben nach träumenden Privatgefühlen bestimmen, sondern ich will so viel als möglich parteilos das Verständnis der Gegenwart befördern und den Schlüssel der lärmenden Tagesrätsel zunächst in der Vergangenheit suchen. Die Salons lügen, die Gräber sind wahr. Aber ach! die Toten, die kalten Sprecher der Geschichte, reden vergebens zur tobenden Menge, die nur die Sprache der Leidenschaft versteht.«

Freilich, nicht vorsätzlich lügen die Salons. Die Gesellschaft der Gewalthaber glaubt wirklich an die ewige Dauer ihrer Macht, wenn auch die Annalen der Welthistorie und das feurige Menetekel der Tagesblätter und sogar die laute Volksstimme auf der Straße ihre Warnungen aussprechen.

Alle Parteien mögen glauben, was sie wollen – Heinrich Heine spricht von den »zwei großen Parteimassen«, der im Wesen servilen und der im Grundsatz liberalen –, sie gleichen sich im Interesse, »die bekannten Tatsachen zu entstellen und die unbekannten zu verhüllen; denn sie glauben, was sie wünschen; sie berauschen sich im Champagner ihrer Hoffnungen …« Wegen dieser labilen Wahrheitsverhältnisse geht der Berichterstatter auf den Schauplatz der Augenblicke und sucht »angesichts der Begebenheiten« den Indifferenzpunkt, der es ihm erlaubt, die Tatsachen »so viel als möglich parteilos« in ihrer Offenheit und Beweglichkeit zu erkennen und zu besprechen. Und dort gelte es, das Ereignis sowohl als die eigene Ansicht darüber »in die Form des Faktums zu kleiden«. Dabei sei die Tonart ein wichtiges Mittel, wodurch es möglich gemacht werden könne, »das Verfänglichste zu referieren«. Die Indifferenz hat Heine für die »probateste Tonart« gehalten, auf dem Schauplatz der Augenblicke den Fakten ihre Form zu geben.

Neigt sich eine Waagschale im »Kampf und Gegenkampf« der Parteien? – In einer Krise, wenn es hart auf hart zugeht, sind die Tatsachen rasch zerrieben und verweht; und während ein Berichterstatter noch nach ihnen haschen mag und die Parteien noch kämpfen, könnte der listige »Weltgeist« schon die Fronten gewechselt und betreffs der »Gesellschaft der Gewalthaber« umdisponiert haben. Jetzt – noch »im Geräusch des Parteikampfs und zwar immer kurz vor Abgang der Post« – kommt es darauf an, für das Gedächtnisregister im Weltarchiv zu berichten: rechtzeitig also dem Interesse einer siegenden Partei entgegenzuwirken, nach ihrem Sieg erneut Tatsachen zu entstellen und die Stimme aus den Gräbern zu ersticken. So aktuell wie widersprüchlich ist, was bei solcher Berufsauffassung z. B. bei drohender Kriegsgefahr einem pazifistischen Korrespondenten wie Heine von der Feder geht. »Wartet nur!« – – – Wenn man im Orient »mal den bewaffneten Einfluß der Europäer nicht mehr zu fürchten braucht …«

»Paris, 3. Oktober 1840.

Seit gestern abend herrscht hier eine Aufregung, die alle Begriffe übersteigt. Der Kanonendonner von Beirut findet ein Echo in der Brust aller Franzosen. Ich selber bin wie betäubt: schreckliche Befürchtungen dringen in mein Gemüt. Der Krieg ist noch das geringste der Übel, die ich fürchte. In Paris können Auftritte stattfinden, wogegen alle Szenen der vorigen Revolution wie heitere Sommernachtsträume erscheinen möchten! Der vorigen Revolution? Nein, die Revolution ist noch ein und dieselbe, wir haben erst den Anfang gesehen …«

Aktuell auch das Hinüberspielen des kritischen Augenblicks in einen Begriff permanenter Revolution? Man muß wissen, daß der Journalist hier von einer europäischen als von einer Krise spricht, die ausgelöst wurde vom politisch-militärischen Export mittelalterlicher Kreuzzugsgewalt in den Orient samt des ihr immanenten europäischen Antisemitismus: Wie wird beides zurückschlagen auf die »teuern Erworbenheiten« der Revolution in Europa?

Während wir in Europa die Märchen des Mittelalters als poetischen Stoff bearbeiten und bei uns nur noch in Gedichten und Romanen von jenen Hexen, Werwölfen und Juden die Rede ist, die zu ihrem Satansdienst das Blut frommer Christenkinder nötig haben; während wir lachen und vergessen, fängt man an im Morgenlande, sich sehr betrübsam des alten Aberglaubens zu erinnern und gar ernsthafte Gesichter zu schneiden, Gesichter des düstersten Grimms und der verzweifelnden Todesqual!

Das Kalkül bloßer »Bajonettenmehrzahl« bringe den alten Kontinent in eine gefährliche Lage, denn »das Eisen tötet nicht, sondern die Hand, und diese gehorcht der Seele. Es kommt nun darauf an, wieviel Seele auf jeder Waagschale sein wird« – und wieviel Ernst: Wie reagieren die Massen auf die Gefahr eines Krieges dort und hier? »Im Palais-Royal wimmelts von Ouvriers, die sich die Zeitungen vorlesen und sehr ernsthaft dabei aussehen. – – – Heute Amboß, morgen Hammer!«

Sehen wir von der politischen Aktualität 1840 im einzelnen ab und achten auf die traditionsfähige Struktur ihrer »Einkleidung«. Angesichts solcher Krisen bricht Heine den »Ton« der Indifferenz, schon während er ihn anschlägt. Die Orientkrise rührt an ein »Herzeleid«, es übertönt das »parteilose« Bild von den Waagschalen, die noch auszubalancieren sind, und verändert den Ton des Berichts ins unbestimmt Sorgenvolle. »Erscheinungen dieser Art sind ein Unglück, dessen Folgen unberechenbar. Der Fanatismus ist ein ansteckendes Übel, das sich unter den verschiedensten Formen verbreitet, und am Ende gegen uns alle wütet.«

Korrespondiert Heine von solchem Aussichtspunkt nach Deutschland, arbeitet er besonders zensurbewußt. Die Zensur habe seinen Stil geformt, sagt er. Gestaltung des historischen Augenblicks im Tagesbericht hält seinen Gehalt ein Stück weit heraus aus der Gefahrenzone unmittelbar reagierender Zensurgewalt, wenn Gestaltung auch die Kunst der Anspielungsrätsel heißen kann, mit der uns die seherische Qualität der Tagestexte zugetragen wird. Prinzipiell bedingen sich Zensur und gesellschaftlicher Wandel überhaupt. Heine sieht darin ein Realitätsprinzip und spielt es situationistisch gegen die Parteien aus. Während noch gekämpft wird, die Waage sich neigt, eine siegende Partei sich anschickt, auch die Tatsachen zu besiegen, aber ihre Zensurverhältnisse erst formieren muß, ist die Korrespondenz schon geschrieben und fürs »Weltarchiv« zur Post gebracht. Das ist die innere Freiheit vor äußerer Zensur. Mitten aus der Bewegung der Fakten heraus ist die Beweglichkeit eines »Allgemeinen« in ihnen registriert; die »liberale Presse« kann das, »sie sät die Zukunft«. Dieses Programm, zuweilen unter »Selbsttortur« in der brotgebenden Augsburg/Münchner Allgemeinen Zeitung erprobt, ist Heines Erbschaft.

Ein in jeder Hinsicht politischer Schriftsteller muß der Sache wegen, die er verficht, der rohen Notwendigkeit halber manche bittere Zugeständnisse machen. Es gibt obskure Winkelblätter genug, worin wir unser ganzes Herz mit allen seinen Zornbränden ausschütten könnten – aber sie haben nur ein sehr dürftiges und einflußloses Publikum, und es wäre ebensogut, als wenn wir in der Bierstube oder im Kaffeehaus vor den respektiven Stammgästen schwadronierten, gleich andern großen Patrioten. Wir handeln weit klüger, wenn wir unsre Glut mäßigen und mit nüchternen Worten, wo nicht gar unter einer Maske, in einer Zeitung uns aussprechen, die mit Recht eine Allgemeine Weltzeitung genannt wird …

Zensur von der schlimmsten Art ist die Angst vor dem eignen Wort.

Eine Frage durchzieht Heines Journalismus: Was ist das Realitätsprinzip »in Zeiten der Revolution«?

Eine ungewöhnliche, ja radikale Frage! Ist auch sie aktuell? Sie verknüpft Enthusiasmus mit Vernunftsreife, Liberalität mit Gedächtnis, hat sich dem Geschichtsbild der kurzäugigen »Prädikanten« entzogen, die immer nur von »Umwälzung und wieder Umwälzung« reden und denen der Welt-Blick fremd ist, mehr noch ein ironischer, ja auch humoresker, jedenfalls historisch geschärfter Über-Blick zurück – und ›hinunter‹ in den Tag, der »ein Resultat« des gestrigen ist, auch wenn er an der Kette kommender Tage liegt, mit ihren Augenblicken neuer Gefahren, die in den ›kleinen‹ Entscheidungen des heutigen Tags sich schon verbergen und an die Toten im Grab erinnern. Es ist das Vergangene, dessen Verständnis Heine den »Tagesrätseln« vor allem entlocken möchte, in einer schönen Sprache, die leicht wirkt, da ihm »fast glücklich zumut« ist in der »holdseligen zivilisierten Luft von Paris«. Sie hat selbst seine Begriffssprache leicht gemacht.

Indem man die Gegenwart durch die Vergangenheit zu erklären sucht, wird zu gleicher Zeit offenbar, wie diese, die Vergangenheit, erst durch jene, die Gegenwart, ihr eigentlichstes Verständnis findet und jeder neue Tag ein neues Licht auf sie wirft.

Journalistische Denkbilder dominieren Heines Korrespondenzen. Ihr Anspielungscharakter geht bis zum Mittel der Mystifikation; es schützt paradoxerweise die Kommunikation mit dem Publikum und ist ein Stück Selbstzensur. »Hauptbegriffe«, die das »Wesentliche« der Revolution mitzudenken lehren sollen, öffnen das Verfahren wieder, figürliche und parabolische Maskierungen verschließen es, oder »Historietten und Arabesken, deren Symbolik nicht jedem verständlich ist«. Ein Verfahren, das publikumsbezogen ist, indem es »die Zukunft sät«. Der berufsliberale Journalist selber muß sich die Verführungen der Opportunität, aber auch die Morgenzeitung vom Leibe halten, die das Opportune schon gedruckt haben könnte. Er geht in den Tag wie in eine Vorzeitungs-Zeit, eine vor-textliche Objektivität, nimmt ›im stillen‹ weit seltener das holdselig Zivilisierte auf als alles andere, worin er als Philosoph das »geheime Übel« erkennt, das in allem steckt, das uns beim ersten Anblick nur ein Schauplatz der Verwirrung und Widersprüche dünken will. Überreichtum und Misere, Orthodoxie und Unglaube, Freiheit und Knechtschaft, Grausamkeit und Milde, Ehrlichkeit und Gaunerei, diese Gegensätze in ihren tollsten Extremen, darüber der graue Nebelhimmel, von allen Seiten summende Maschinen, Zahlen, Gaslichter, Schornsteine, Zeitungen, Porterkrüge, geschlossene Mäuler – – –

Seine bildschönen begriffsdurchzogenen Mystifikationen nehmen das Publikum mit in die Vorzeitungs-Zeit auf dem »Schauplatz der Verwirrung und Widersprüche« und ›lehren‹, wie man sie subjektiv nutzt: einen eigensten Blick ins Reale zu tun, die eigenen Begriffe dabei auszubilden und einem Journalisten zuzusehen, der seiner Subjektivität auch vertraut – aber »nicht ganz«, denn er »muß Alles schreiben können, und sollte es ihm noch so übel dabei werden«.

Der Philosoph des Tagesberichts hat die panrevolutionäre Perspektive; sagt er Ich im Text, so zeigt es sich kühn und kritisch, richtet seine Nachforschungen mißtrauisch auf die Untaten des Weltgeistes, die Ursache jenes »geheimen Übels«. Seine Begriffe widersprechen einem ›nur‹ Begeisterten oder ›nur‹ Erschreckten und begründen Freiheit, Souveränität, Nüchternheit gegenüber den beweglichen Tatsachen. Die französischen Zustände offenbaren es: Man steckt hier in einer »Spezialrevolution«, mit ihrer Unvollendung »nimmt die weit umfassendere Universalrevolution erst ihren Anfang. Die Revolution ist eine und dieselbe – – –«

Und weiter zieht der Begriff seine Spur durch die Tagestexte. Solange eine Revolution nicht vollendet ist, das bedeutet, »solange die Umgestaltung der Staatsinstitutionen nicht ganz mit der Geistesbildung und den daraus hervorgegangenen Sitten und Bedürfnissen des Volkes übereinstimmt«: solange harrt die Menschheit ihrer weltlichen Erlösung, und die Zeiten des »Notkampfs, der eine Revolution genannt wird«, enden nicht. Hier grenzt Heines Philosophie der Tageszeitung an sein messianisches Denken, dessen Substrat dieses ist: Historische Realität, wie sie ist, ist Krankheit des Volkes. Das ist Heines kühnster Gedanke überhaupt. Soziale Krankheit und religionsgeschichtlich irregegangene (römisch-christliche) Gesetzlichkeit entsprechen sich ebenso symptomatisch wie »krank überreiztes Volk« und »Staatssiechtum«; ist dieses nicht »völlig geheilt«, bleibt das soziale Krankheitsbild konstant: Unruhe – Schlaffheit – und wieder Fieberhitze.

Wie kann man übersehen, daß der Gesichtswinkel dieses Denkens über Volk und Gesetz ein jüdischer ist!/? Er sichert »dem Gedanken« im Heineschen Tagesbericht die höchste intellektuelle Toleranz- und Gerechtigkeitsstufe. Der »Tonfall der Indifferenz« entstammt diesem Gesichtswinkel, wie ihm das Gebot »Erinnere dich!« entstammt. Er ist besorglich auf die Revolution gerichtet. In einer der »Historietten« heißt es: »Ich würde es nicht aushalten können, alle Tage guillotiniert zu werden – und niemand hat es aushalten können«, auch die Reaktionäre nicht. Wer wie Heine, emanzipiert vom Hörsaal Hegels, auf den Straßen von Paris sagt, ihm liege »die Sicherung der Siege, die für das demokratische Prinzip erfochten worden, mehr als alle anderen Interessen am Herzen«, der exorziert auch die Guillotine nicht aus dem Gedächtnis der Tagesberichte. Aus dem jüdischen Gesichtswinkel auf jener höchsten intellektuellen Stufe bekommt die Frage: was der »gestrige Tag« gewollt habe, dessen Resultat der heutige ist? ihr spezifisches Gewicht, und das Denkbild des Eingangs erweist sich als sicherer Ort in der täglichen Berichtspraxis: »Die Salons lügen, die Gräber sind wahr.«

Resümieren wir! Im Tagestext eines Autors, »welcher eine soziale Revolution befördern will«, wird auf den Fluchtlinien der universellen Zeit gedacht. Wer die Subjektrolle in solchem Text annimmt, Autor, Leserin, – darf dem Tag »immerhin um ein Jahrhundert vorauseilen« und zugleich die Wurzel aller Zeit in der »schaffenden Gottesbrust« vermuten, in der vielleicht die Fehden um die großen Prinzipien »im Befreiungskriege der Menschheit« schon ausgefochten wurden, – – darf auch, im Gegensatz zum »Tribun, welcher eine politische Revolution beabsichtigt«, sich »von den Massen entfernen«: während er sich unter sie mischt, wenn sie sich auf den Straßen bewegen, und sie besucht in ihren Quartieren. Dort hört er Lieder singen, die in der Hölle gedichtet zu sein schienen. Man muß dergleichen mit eigenen Ohren angehört haben, z. B. in jenen ungeheuren Werkstätten, wo Metalle verarbeitet werden und die halbnackten trotzigen Gestalten während des Singens mit dem großen eisernen Hammer den Takt schlagen auf dem dröhnenden Amboß.

Ein journalistisches Lehrstück: den Wanderungen des Begriffs durch die sprachliche Bildwelt in Heines Berichten folgen! Abschreckend? Ein praktischer Anachronismus angesichts des Sieges, den das Finanzkapital mit der Vereinnahmung der Freiheiten in den Medien schon zu Heines Zeit nachhaltig errungen hat? Vielleicht kommt es nur auf die Wahrung eines »Hauptbegriffes« an? Oder auf die literarischen Qualitäten einer Zeitung?

»Paris, 7. Juni 1832.

Als ich gestern nach der Börse ging, um meinen Brief in den Postkasten zu werfen, stand das ganze Spekulantenvolk unter den Kolonnen, vor der breiten Börsentreppe. Da eben die Nachricht anlangte, daß die Niederlage der Patrioten gewiß sei, zog sich die süßeste Zufriedenheit über sämtliche Gesichter; man konnte sagen, die ganze Börse lächelte. Unter Kanonendonner gingen die Fonds um zehn Sous in die Höhe. Man schoß nämlich noch bis fünf Uhr; um sechs Uhr war der ganze Revolutionsversuch unterdrückt. Die Journale konnten also darüber schon heute so viel Belehrung mitteilen, als ihnen ratsam schien. Ich komme eben von dem Schauplatze des gestrigen Kampfes, wo ich mich überzeugt habe, wie schwer es wäre, die ganze Wahrheit zu ermitteln. Dieser Schauplatz ist nämlich eine der größten und volkreichsten Straßen von Paris, die Rue St.-Martin, die an der Pforte dieses Namens auf dem Boulevard beginnt und erst an der Seine, an dem Pont de Notre Dame, aufhört. An beiden Enden der Straße hörte ich die Anzahl der ›Patrioten‹ oder wie sie heute heißen, der ›Rebellen‹, die sich dort geschlagen, auf fünfhundert bis tausend angeben; jedoch, gegen die Mitte der Straße ward diese Angabe immer kleiner und schmolz endlich bis auf fünfzig. ›Was ist Wahrheit!‹, sagt Pontius Pilatus.«

Wahrscheinlich allerdings sind Heines prognostische Momentaufnahmen im gegenwärtigen Presseklima wirklich abschreckend dann, wenn es sich um weniger heiter scheinende Augen-Blicke handelt, die dieser messianisch denkende, universal-ironische Zeitungsschreiber »hinab in die Schreckensnächte der Zukunft« getan hat, schaurige Phantasmen eines nicht an Kassandra, sondern am Buch der Klagelieder in der hebräischen Bibel orientierten Propheten.

Siegt dereinst Satan, der sündhafte Pantheismus, vor welchem uns sowohl alle Heiligen des Alten und des Neuen Testaments als auch des Korans bewahren mögen, so zieht sich über die Häupter der armen Juden ein Verfolgungsgewitter, das ihre früheren Erduldungen noch weit überbieten wird …

Was man in Deutschland nicht wahrhaben will: Heines Klagetöne kommen aus dem »beleidigten Herzen« eines Intellektuellen, der sich zuerst um das europäische Judentum sorgt und dessen Zugehörigkeit und historische Bildung nicht zu täuschen waren von der Profit-Aura der jüdischen Assimilation an das Wachstum der christlichen Kapitalien, das sich dem Kanonendonner verdankt. Nach dem Sieg in der Rue St.-Martin wurde es erst einmal still im Land. So hübsch ironisch-heiter wie am 7. Juni 32 ist der Bericht darüber nicht mehr:

»Hier in Frankreich herrscht gegenwärtig die größte Ruhe. Ein abgematteter, schläfriger, gähnender Friede. Es ist alles still wie in einer verschneiten Winternacht. Nur ein leiser, monotoner Tropfenfall. Das sind die Zinsen, die fortlaufend hinabträufeln in die Kapitalien, welche beständig anschwellen. Man hört ordentlich, wie sie wachsen, die Reichtümer der Reichen. Dazwischen das leise Schluchzen der Armut. Manchmal auch klirrt etwas, wie ein Messer, das gewetzt wird.«