Millionen Einheitsklöße

In der CDU-Parteizentrale bastelt Angela Merkel an der deutschen Leitkochkultur

„Bis zur Wahl 2006 wollen wir den ‚Deutschen Leit-Kultur-Index‘ aufstellen“

Mit gewohnt solidem Elan, der über ihr mürrisches Mienenspiel hinwegtröstet, betritt Angela Merkel den Konferenzraum in der Berliner CDU-Parteizentrale. „Avanti, liebe Leute, lasst uns gleich mal rauf gehen!“, ruft die CDU-Bundesvorsitzende salopp ins Rund der Oppositionsspitzen, die auf eine gemütliche Besprechung vorbereitet waren und sich jetzt mühsam wieder erheben müssen.

Auf dem Weg nach oben ins Dachgeschoss liest Frau Merkel ihrem Gefolge aus einem Brief vor: „Sehr geehrte Frau Dr. Angela Merkel, wir möchten Sie herzlich bitten, den Begriff Leitkultur nicht länger in derart undifferenzierter Weise zu benutzen wie Sie es tun. Da Sie nicht präzisieren, was Sie konkret darunter verstehen, entsteht nicht nur bei uns, sondern vor allem bei vielen Menschen ausländischer Herkunft, der Eindruck, dass Sie den Begriff Leitkultur bewusst als ideologischen Kampfbegriff einsetzen. Womit müssen Migranten künftig bei Ihrer Partei rechnen? Mit freundlichen Grüßen – Unleserlich. Irgendwas Fremdes.“

Angela Merkel lässt das Blatt sinken wie ihre Mundwinkel. „Wir kriegen immer mehr Post dieser Art. Das ist ein erfreuliches Zeichen dafür, dass offenbar immer mehr Ausländerinnen und Ausländer Deutsch schreiben lernen. Aber wir müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch einen Schritt weiter gehen in unseren Bemühungen um das Deutschland der Zukunft. Wir müssen den integrationswilligen nichtdeutschen Menschen beiderlei Geschlechts Sicherheit an die Hand geben. Ich habe daher eine alte Initiative aus dem Talentschuppen der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgegriffen, um allseits restlose Klarheit herzustellen.“ Mit Schwung zieht Angela Merkel eine Schiebetür auf. Aahs und Oohs werden laut. Das Blitzlichtgewitter der Fotografen will schier kein Ende nehmen.

Man sieht eine Mischung aus Bibliothek, Lebensmittellabor und industrieller Produktionsstraße. Merkels Stimme zeugt von verhaltenem deutschen Stolz: „Das hier ist nur der Anfang. Bis zur Wahl 2006 wollen wir den ‚Deutschen Leit-Kultur-Index‘ aufstellen. Ganz wichtig für den DLKI ist die deutsche Küche. Die CDU kocht deshalb von heute an nur noch deutsch und wird so allen ausländischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen genau verdeutlichen, was das heißt: deutsche Gerichte, deutsche Speisen, deutsche Kost.“ Im Hintergrund werden von dienstbaren Geistern dicke Kochbücher eingescannt, an Bildschirmen Texte weiterbearbeitet.

Merkel erklärt den staunenden Pressevertretern die grandiose Idee: „Das gewonnene Rohrezeptmaterial wird auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht. Das Resultat ist dann zum Beispiel ein Einheitsrezept für deutsches Sauerkraut!“ Sie tritt an einen Kessel. „Um jedem eine genaue Vorstellung davon zu geben, werden hier anschließend so genannte 3-D-Definitionen in Form von Konserven erstellt. Die kann man einfach erhitzen und sich den Leitkulturnormgeschmack von deutschem Sauerkraut einprägen.“ Angela Merkel lüftet einen Deckel, nimmt mit einem Kochlöffel eine Probe und befiehlt der Hilfskraft hinter dem Topf: „Da können Sie ruhig noch etwas Speckwürfel reingeben!“ Während der Vorarbeiter kopfschüttelnd auf seinen Normzutatenzettel blickt, rauscht die Besuchergruppe schon weiter.

Ein Blick in die Kloßabteilung beschließt den Rundgang. „Wir sind fast durch, Frau Merkel!“, schreit der hier Zuständige gegen die rotierende Teigmaschine an. „Eine Million Einheitsdefinitionskonserven deutscher Kartoffelkloß werden bis heute Abend in der Speicherhalle auf dem Zentralflughafen Tempelhof eingelagert. Dann bauen wir die Produktionsstraße für den deutschen Leberknödl um.“

Merkel ist zufrieden und droht mit dem erhobenen Zeigefinger einem hungrigen Journalisten, der einen Croissants in der Backentasche verschwinden lässt. Dann beendet die CDU-Chefin ihre beeindruckende Vorführung deutscher Leitkochkultur. Voller Pathos verkündet sie der Nation, was die schon immer hören wollte: „Es lebe der deutsche Sauerbraten!“ TOM WOLF