Deutsches im eigenen Saft

Mit dem „Bundesvision Song Contest“ wollte Stefan Raab ein deutsches Popfestival schaffen, das das Zeug zur Legende hat. Herausgekommen ist eine Abspielveranstaltung kommerzieller Musik aus Deutschland – ohne Herz und Leidenschaft. Immerhin: die Einschaltquote bei den Jugendlichen war gut

AUS OBERHAUSEN JAN FEDDERSEN

Und das sollen Sieger sein? „Wir haben uns über unsere Chancen gar keine Gedanken gemacht“, gibt Eva Briegel kurz nach Mitternacht in der Oberhausener Arena zu Protokoll, „aber wir freuen uns extrem.“ Seltsam, dass ihre Mimik ihrem Statement nicht entspricht. Routiniert ihr Kommentar, als müsse sie ebendies und bloß nicht dessen Gegenteil sagen. Wie klänge es auch, würde sie mitteilen, es sei für sie und ihre Band Juli ein netter Gig gewesen, eine Art Zugabe nach all den Wochen mit ihrem Song „Geile Zeit“ in den Charts, nach all den Monaten, in denen gar ihr anderer Hit, „Perfekte Welle“, wegen des Tsunamis glaubwürdig-hysterischerweise nicht mehr in den Radios gespielt wurde?

„Den verklag ich!“

Nein, unmöglich das. Wie auch Stefan Raab, Promoter und Mentor des ersten Bundesvision Song Contest, sagt, was er sagen muss, um nicht als Kritiker in eigener Sache dazustehen: „Die Veranstaltung war musikalisch hochklassig, wer das Gegenteil behauptet, den verklag ich.“ Nun ja, abwarten. Die Quote wird ihm anderntags so etwas wie Recht geben. In der werberelevanten Zielgruppe der Zuschauer zwischen dem 14. und 49. Lebensjahr hat seine Show alle anderen Programme geschafft. 2,55 Millionen schauten bei Pro 7, das entspricht einem Marktanteil von 21,2 Prozent. Florian Silbereisens „Winterfest der Volksmusik“ hatte zwar eine bessere Quote, die aber errang er, in Konkurrenz zu „Bella Block“ im ZDF und zu Günther Jauchs Quiz auf RTL, fast exklusiv in den Vorruhe- und Pensionärsständen.

Aber hat Raab geschafft, was er wollte? Hat er mit dem „Bundeswischn ßong Contest“ (wie er den Namen auszusprechen pflegt) der ARD und ihrer Traditionsmarke Grand Prix Eurovision mal tüchtig gezeigt, wie das geht, mit Viva- und MTV-kompatibler Musik einen Liederwettbewerb auszurichten – frei von den Ralph Siegels dieser Welt? Hip, trendy, unspießig, irgendwie unverstaubt und also zeitgenössisch?

Was man tatsächlich sah und hörte, im Saal, zur Prüfung später auf dem Mitschnitt, war allerdings nur dies: die Mühe, ein eigenes, von „osteuropäischen und orientalischen“ (Raab) Einflüssen freies Format zu kreieren, das sich am Ende allerdings als ziemlich holprige, weil magiefreie Kopie des Originals herausstellte. Da wurden 16 Bands ausgesucht, jeweils Bundesländern zugeordnet und behauptet, sie verfügten über eine besondere, sagen wir: brandenburgische oder bayerische Identität. Von den Düsseldorfer Toten Hosen heißt es, sie hätten im Notfall, falls das Feld nicht zu füllen ist, mitgemacht, zu welchem Bundesland sie gepasst hätten, wäre Verhandlungssache gewesen.

Aller Beliebigkeit im Provinziellen zum Trotz merkte man vor allem Stefan Raab in seiner Rolle als Moderator an, dass er leidet. Nicht an der Show als solcher, sondern an dem Umstand, nicht das Original zu sein. Ist eben doch nur Bundesvision. Gleichwohl waren die Zutaten zur Show in Gänze raubkopiert. Der Auftakt mit dem „Te Deum“ von Charpentier, der Eurovisionshymne; die Einspielfilmchen vor jedem Beitrag, ironisch nur gebrochen durch den steten, 16 Mal wiederholten Auftaktsatz „Kommen wir jetzt zu dem sicher schönsten Bundesland“; schließlich die Punkteauswertung, in der auch alles wie beim echten Grand Prix lief: Zwölf Punkte als Höchstwertung eines Landes, ein Punkt für den zehntliebsten Song.

Grenzdebiles Gestammel

Unschön nur, dass Raab wie seine Co-Moderatorin Annette Frier (die unvorteilhafterweise auf ein Abendkleid verzichtete und einem textilen Quasi-Nichts den Vorzug gab), die meisten Informationen vom unglücklich auf dem Bühnenboden stehenden Prompter ablesen musste. Und hässlich auch, wie fast vorsätzlich ahnungslos Oliver Pocher durch den Green Room (den Künstlerraum – noch ein kopiertes Showelement des Originals) torkelte: Gab es denn gar keinen, der ihm, wenn er schon selbst keine weiß, sinnvolle Fragen zustecken mochte? Ein grenzdebiles Gestammel sondergleichen. Hübsch allerdings zu notieren, dass im Green Room offenbar ein alkoholisch wirkendes Gelage stattfand, die Künstler daran weitgehend leidenschaftlicher teilnehmend als an Fragen nach Sieg oder Niederlage. Ein Indiz, dass sie selbst die Show nahmen, wie es Profis zu tun belieben – als Abspielstätte ihrer neuesten Produkte.

Mit Herz und Fieber jedenfalls war wohl niemand am Start, vielleicht noch am ehesten die Brandenburger von „Virginia Jetzt!“ (die ein Punktemitteiler aus Berlin ultrasüffisant als „Vagina Jetzt!“ bezeichnete). Oder der so genannte Bremer Lukas Hilbert, der allerdings wie alle anderen live singen musste, was seine stimmlichen Grenzen leider überkrass zeigte. Vielleicht auch Marta aus Baden-Württemberg, die mit den Streichern von Apocalyptica musizierte. Doch es fehlte, neben einer mitreißenden Kameraführung, so etwas wie Magie. Die gewisse Form der europäisch-kleinstaaterischen Sinnlosigkeit. Dass Malta Russland bewertet und Island Slowenien, und zwar mit je gleichem Gewicht. „Hier ist Potsdam“ oder „Wir sind hier in Ulm“ klingt zwar bodenständiger als Reykjavík oder Vilnius, Tirana oder Oslo, aber doch auch ein wenig muffig-horizontlos: Deutsches im eigenen Saft.

Ist das die neue Jugendkultur? Wir gucken nur bis zum eigenen Tellerrand. Stattdessen: „Here are the votes of the bavarian jury!“ Herzlichen Dank für das schöne Eurovisionsenglisch aus einer Münchner Disko.

Gewisse Pannen überspielte Raab, klar, ein Profi auch er, souverän. Dass, beispielsweise, in Sachsen der Radiopartner von der Schippe gesprungen war, nachdem der Bundesvisionserfinder neulich in einem lustig gemeinten TV-Beitrag zur Bundesvision die britischen Bomberpiloten als „Touristen“ und ihren Flug im Februar 1945 nach Dresden als Beleg für die Attraktivität der Stadt bezeichnet hatte. Postmoderner Humor möglicherweise, aber einer von der Sorte, der just in einem Bundesland, in dem die NPD um sich greift, als ganz und gar geschmacklos empfunden wurde. So ließ man sich, ohne direkt auf den Vorfall abermals einzugehen (Raab hatte sich schon vor einer Woche entschuldigt), die sächsischen Punkte aus einer Berghütte in Johanngeorgenstadt übermitteln.

Die eigentliche (unbewusste) Misslichkeit war aber Raab selbst. Ein ums andere Mal verhaspelte er sich zu seinen Ungunsten. Sagte „Länder“ statt „Bundesländer“ – und gab bekannt, dass die Bundesländer per SMS und „Televotum“ (Achtung: deutsch für Televoting) auch für sich selbst abstimmen können (das erhöht die Gebühreneinnahmen aus den Abstimmungen), „da sind wir anders als die anderen“. Sprechender kann man sich nicht am Original abmühen. Welch wahrhaftiges Bekenntnis von Annette Frier, dass die Bundesvision nur stattfände, weil Max Mutzke voriges Jahr in Istanbul nur den achten Platz belegte. Defensiver, ängstlicher, weil aus einer Haltung der Beleidigtheit kommend, kann man sein eigenes Tun nicht rechtfertigen: Fies – die anderen europäischen Kinder finden mein Spielzeug doof – da bleib ich doch lieber in meinem Zimmer hocken!

Kann also Stefan Raab, der dreimal bei der Originalvision auch aus Gründen der Liebe zu dieser obskur-ergreifenden TV-Show dabei war, annehmen, dass er eine Legende begründet hat? Darf er auf das Schönste hoffen, dass man unter den Viva- und MTV-Kids in den nächsten Wochen sich zuraunt, „hey, das war cool“? War das unorientalisch genug? Hat es etwas genützt, einem der Anrufer der Abstimmung einen Alpha Spider im Wert von 33.000 Euro zu versprechen? Waren „Blut, Tränen und Schweiß“ (Pocher) nicht umsonst vergossen? Mehr noch: Wird die Wok-Weltmeisterschaft wieder erfolgreicher als seine Bundesvision? Wird er sich gern daran erinnern, dass die Radiostationen, über die die Punktewertung organisiert wurden, Moderatoren vor die Kamera schickten, die mehr nach bösem Zechgelage schmeckten als nach seriöser Punktewertung? Liebt man den Trash so sehr, dass er das alles tolerabel findet?

Eine Show, mehr nicht

Ein San Remo, das italienische Popfestival schlechthin, der Event, an dem kein Pop-Act vorbeikann, wird die Bundesvision wohl nicht. Die Menschen der Plattenfirmen, die in Oberhausen nach dem Rechten guckten, wogen bedenklich die Köpfe. Die Bundesvision ist ihnen ja nicht wichtig, weil ihnen das Deutsche am Herzen läge. Eine Show, mehr nicht, wenn auch eine gut quotierte. Aber die Plattenverkäufe … Sie sind nicht so gut, wie sie hofften. Die Gruppe Juli hat vielleicht ihren Zenit schon hinter sich. Aber das hätte sie, gemessen am Original, mit einer Fülle von Eurovisionsgewinnern gemein.