Schiiten verpassen knapp die Mehrheit

Bei den Parlamentswahlen im Irak siegt die Vereinigte Irak-Allianz. Zweitstärkste Kraft wird die Liste der Kurdenparteien. Diese dürfte bei den Koalitionsverhandlungen sowohl von den Schiiten als auch von Premier Alawi heftig umworben werden

VON KARIM EL-GAWHARY

Wie hoch ist der schiitische Wahlsieg, und wie solide war der sunnitische Boykott? Am Sonntagnachmittag beantwortete das irakische Wahlkommittee diese beiden wichtigen offenen Fragen zu den irakischen Wahlen. Zwei Wochen nach dem Wahltermin gab es die vorläufigen Endergebnisse bekannt. Diese können nun noch drei Tage lang angefochten werden, bevor sie als offiziell gelten.

Erwartungsgemäß ging die größte schiitische Liste, die „Vereinigte Irak Allianz“ mit 48 Prozent der Stimmen als eindeutiger Sieger aus den Wahlen hervor. Damit wird die Liste, die nach dem prominentesten schiitischen Geistlichen Großajatollah Ali al-Sistani auch Sistani-Liste genannt wird, allerdings die Mehrheit im neuen irakischen Parlament um sieben Sitze verpassen. Sie wird in der 275 Abgeordnete zählenden Kammer künftig mit 132 Sitzen vertreten sein. Zweistärkste Partei wird eine gemeinsame Liste der beiden großen kurdischen Parteien, die auf 26 Prozent der Stimmen kamen. Sie wird mit 71 Abgeordneten in das Parlament einziehen. Die „Irak-Liste“ des Übergangsministerpräsidenten kam auf lediglich 14 Prozent und damit 38 Volksvertreter.

Insgesamt haben 8,5 Millionen Iraker ihre Stimme abgegeben, das entspricht einer Wahlbeteiligung von 59 Prozent. In der aufständischen sunnitischen Anbar-Provinz, in der die Städte Felludscha und Ramadi liegen, lag die Wahlbeteiligung lediglich bei zwei Prozent. In der Salaheddin-Provinz, einem anderen Teil des sunnitischen Dreiecks gingen etwas weniger als ein Drittel der Wähler an die Urnen.

Bis eine neue Regierung gebildet wird, dürften allerdings noch einige Wochen mit Koalitionsverhandlungen und Ämterschacher vergehen. Die große Frage ist jetzt, wer die Kurden als Koalitionspartner gewinnen kann. Offensichtlich laufen bereits seit Tagen hinter den Kulissen Verhandlungen. Ministerpräsident Alawi, dessen Partei etwas abgeschlagen auf dem dritten Platz landete, war mehrmals zu Gesprächen in den kurdischen Norden geflogen. Aber auch die schiitische Liste könnte versuchen, die Kurden an Bord zu holen, um damit ihre knapp verfehlte Mehrheit auszugleichen.

Damit dürften sich die Kurden als das Zünglein an der Waage erweisen. Dieses ist eine Position, die ihnen einen großen Verhandlungsspielraum für ihren Wunsch nach einer losen irakische Föderation geben könnte, die ihnen wiederum ein höchstmögliches Maß an Unabhängigkeit gibt.

Das neue Parlament mit seinen 275 Abgeordneten, das zu einem Drittel aus Frauen bestehen soll, muss zunächst neben einem neuen Kabinett einen neuen Präsidenten und zwei seiner Vertreter bestimmen. Während der Ministerpräsident aller Erwartung nach ein säkularer moderater Schiit sein wird – im Gespräch ist beispielsweise der gegenwärtige Finanzminister Adel Abdel Mahdi – dürfte die Präsidentschaft an die Kurden und damit wahrscheinlich an den Kurdenführer Jalal Zalabani fallen.

Schon seit einigen Wochen finden auch Gespräche statt, wie die Sunniten, die sich nur in geringen Zahl an den Wahlen beteiligt haben beispielsweise mit Ämtern doch noch ins politische System eingebunden werden können. Die Wahlsieger, die schiitische Liste, hatte immer wieder angekündigt, auch mit den Sunniten zusammenarbeiten zu wollen.

Im Sommer steht dann die wichtigste Aufgabe des neuen Parlaments an: dem Land eine endgültige Verfassung zu geben, die dann mit einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments verabschiedet werden muss. Mit dem heutigen Wahlergebnis ist allerdings eindeutig klar geworden, dass keine der irakischen Gruppierungen stark genug ist, um in der Verfassung ihre Vorstellungen durchzusetzen, ohne mit den anderen Kompromisse zu finden.

Läuft alles genau nach Plan, sollen im Dezember erneut landesweite Wahlen stattfinden, um ein endgültiges Parlament zu bestimmen.

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